Am Park entlang

Ich komme aus Fried­richsfelde; an der Fach­hoch­schule für Verwal­tung und Rechts­pflege habe ich eine Vorle­sung gehal­ten, Verfas­sungs­recht, aus gege­be­nem Anlass über Reli­gi­ons­frei­heit, über Staats­kir­chen, die seit der Verfas­sung von Weimar hier­zu­lande verbo­ten sind, schließ­lich über den Unter­schied zwischen Reli­gi­ons- und Welt­an­schau­ungs-Gemein­schaf­ten.
Die schlaue Studen­tin vorne links sagt: Das ist doch eine Frage, die sich nach kultu­rel­len Gesichts­punk­ten entschei­det. Da hat sie Recht. Sie weiß nur noch nicht, dass alles, worauf die Juris­pru­denz ihre Finger legt, juris­tisch ist.

Nach Trep­tow komme ich wegen der Örtlich­kei­ten, von denen es heißt, dass sie ihren eige­nen Charak­ter hatten: gesell­schaft­lich wirk­same Teil­kul­tu­ren. Der Südos­ten Berlins war rot, lese ich, allein 5.000 SPD-Mitglie­der in Trep­tow, in den Abtei­lun­gen Trep­tow, Baum­schu­len­weg, Ober­schö­ne­weide jeweils fast 1.000 Genos­sin­nen und Genos­sen.
Die Spree zu Füßen der Trep­towers spie­gelt den Himmel blau, hinten liegt die Ober­baum­brü­cke wie aus dem Anker-Stein-Bau-Kasten. Hinter der Baustelle des Park-Centers glänzt die Skyline der Beer­mann­straße in der Okto­ber­sonne. Eine rote Arbei­ter­fa­mi­lie, höre ich, wohnte hier neben der ande­ren. Eines der Häuser gehörte einem schwe­di­schen Juden, die Nazis enteig­ne­ten es deshalb nicht, es entstand eine Art Ghetto für die Juden, die aus ihren eige­nen Wohnun­gen vertrie­ben waren und auf ihre Depor­ta­tion warte­ten. Dann wurden sie abge­führt, die Nach­barn stan­den nicht auf und schrien: Nein. Aus einem klei­nen Last­auto lädt ein kohlen-schwar­zer Mann Briketts und trägt sie Korb für Korb nach oben. Früher sah man das häufi­ger.
Aus “offen­siv” kommen freund­lich-lebhafte Kinder, die Erzie­he­rin­nen wirken aufge­schlos­sen, die Kinder drän­gen nach ihren Händen, erzäh­len, erzäh­len und wollen geliebt werden. An der S‑Bahntrasse, über die die S6, 8, 9, 10 fährt, biegt die Beer­mann- scharf nach links und heißt dann Matt­hes­straße nach einem verdienst­vol­lem Lehrer zu Jahr­hun­dert­be­ginn [des 20. Jhd.]. Die Nazis, aber dann auch wohl alle ande­ren, nann­ten die Beer­mann­straße nach Hermann Mäch­tig, der Garten­bau­di­rek­tor war, als zu Ende des 19. Jahr­hun­derts der Trep­tower Park entstand. Die Beer­manns, Indus­tri­elle, waren Juden, plötz­lich wurden ihre Verdienste um den Ort gestri­chen, jetzt verbin­det niemand mehr viel mit ihrem Namen.

Rechts an der S‑Bahntrasse entlang führt ein schma­ler Weg hinterm Draht­zaun in die Klein­gar­ten­ko­lo­nie Alt-Ruhle­ben. Ich blicke zurück. Die Stra­ßen­front hat mit ihren Bakon­rei­hen etwas Gleich­för­mi­ges, aber auch etwas Stol­zes. Das Prole­ta­ri­sche hatte in Berlin oft etwas Stol­zes. Wenn es nicht so gnaden­los unter­ge­gan­gen wäre im Natio­nal­so­zia­lis­mus, der auch etwas Prole­ta­ri­sches hatte, dann sähe das Land heute wohl anders aus.
Die Wirkungs­kraft von Tradi­tio­nen bestimmt sich auch danach, wie das reale Substrat des Über­lie­fer­ten den Weg von seiner Gegen­wart in unsere Vergan­gen­heit gefun­den hat. Die deut­sche Arbei­ter­be­we­gung war schon bei Beginn der Weima­rer Repu­blik, als sie notge­drun­gen zu regie­ren begann, erle­digt, sie war inner­lich gebro­chen, nach­dem die Führung dieser größ­ten Arbei­ter­be­we­gung der Welt einem Krieg der Arbei­ter gegen­ein­an­der zuge­stimmt hatten und dann die weni­gen mit Ableh­nung verfolgte, die Recht gehabt hatten.

Auf der ande­ren Seite der S‑Bahn ist die Gegend präch­ti­ger; an der weiß­rus­si­schen Botschaft vorüber in nied­li­chem Förs­t­erstil biege ich in die Moos­dorf­straße ein. Eine ehema­lige Privat­straße, an ihrem Ende steht das Indus­trie­ge­bäude mit schön reno­vier­ter Fassade, das der Fabri­kant Otto Moos­dorf von der Haupt­straße zurück­ge­zo­gen hatte wie Fonta­nes Kommer­zi­en­rat Trei­bel seine Fabrik für Berli­ner Blau weiter west­lich. Heute ist dort u.a. Infra­test behei­ma­tet, das bekannte Meinungs­for­schungs-Insti­tut. Hinter den großen Fens­tern sehe ich oben die Meinungs­for­scher sitzen und die vielen Fragen beant­wor­ten, die niemand stel­len würde, wenn es die Insti­tute nicht gäbe. Allmäh­lich begin­nen wir zu glau­ben, dass wir Meinun­gen haben, die in uns nur liegen wie die elek­tri­schen Signale auf der Fest­platte. Mit Erstau­nen lernen wir, wieviel wir meinen, ohne es selbst gewusst zu haben.
Die nächste Straße, die west­wärts von der Park­al­lee abbiegt wie ein städ­ti­sches Wohn­zim­mer vom brei­ten Flur, heißt wie später weitere nach einer der Maler, die das 19. Jahr­hun­dert so liebte, ehe es modern wurde und sie nicht mehr liebte. Hier vorne Hans Thoma, weiter hinten Stuck, Leibl, Rethel, Ludwig Rich­ter und Defr­eg­ger. Franz von Defr­eg­ger, die Schlacht am Berge Isel; mein Groß­va­ter liebte das Panorama-Bild, weil es die Grenze verwischte zwischen Stei­nen aus Natur und Stei­nen aus Kunst. Hier sind die hohen Wohn­häu­ser villen­ar­tig, präch­tig. In der Defr­eg­ger­straße, heißt es, hat Fried­rich Ebert gewohnt. Nähe­res weiß ich nicht. Ich kann mir den Reichs­prä­si­den­ten von Weimar also über­all hier vorstel­len, in gedie­ge­ner Groß­bür­ger­lich­keit. Meinem Groß­va­ter, der Glaser­meis­ter war, hätte das gefal­len. Er bewahrte eine Visi­ten­karte auf, die in einem der vielen Weima­rer Wahl­kämpfe von rechts verwen­det worden war: auf der Vorder­seite: “Fried­rich Ebert, Reichs­prä­si­dent”, auf der Rück­seite: “Fried­rich Ebert, Satt­ler”; das sollte herab­set­zen, für meinen Groß­va­ter war es eine Empfeh­lung: Der Mann hatte es zu etwas gebracht. Und über­haupt: Es war ein Hand­wer­ker.

Lange wird es nicht dauern, dann sind hier alle Häuser reno­viert. Es wird eine Glanz­ver­samm­lung nost­al­gi­scher Gest­rig­keit werden. Dann wird man auch von der DDR nichts mehr wissen, niemand wird mehr sagen: “Früher war’s schön hier”, dann wird es jetzt schön sein. Niemand denkt mehr: Der Südos­ten ist rot. Wir strei­chen die Stadt­quar­tiere nicht mehr mit poli­ti­schen Farben an. Es gibt — das sage ich für meine kluge Studen­tin von vorhin — keine gesell­schaft­li­chen Teil­kul­tu­ren in unse­rer Stadt, die kirch­lich oder welt­an­schau­lich bestimmt wären. Das Fern­se­hen ist für uns alle gleich, kultu­rell ist es sogar gleich­gül­tig, ob der eine sich die Grup­pen­spiele der Fußball-Welt­meis­ter­schaft gegen zusätz­li­che Kohle leis­ten kann und der andere für die Staats­ge­bühr nur die Endspiele.
Ich fahre um den tradi­ti­ons­rei­chen Park, in dem die Bäume und die Wiesen echt, die Bauwerke aber nur noch Denk­mä­ler der Vergan­gen­heit sind, durch die Bulga­ri­sche Straße, Alt-Trep­tow, schließ­lich meine Lieb­lings­straße, die herz­er­grei­fende Plata­nen­al­lee, die nach Pusch­kin heißt und an deren Ende die Haupt­ver­wal­tung der Bewag liegt. “Hast du gehört, wie viel Miete sie dafür zahlen?” sagt Mehdi, der mich fährt. “Mein lieber Mann!” sag ich, aber ich weiß nicht, wen ich da anrufe.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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