Von Stockholm nach Thule

Gegen­über der U‑Bahnstation Pank­straße liegt das Café Reichert. Seit 1882. Es ist also schon länger hier als die U‑Bahn und viel länger als die Menschen, die ich heute tref­fen werde.
Preis-Leis­tungs-Verhält­nis in Ordnung, freund­li­che Bedie­nung. Die Innen­ein­rich­tung erin­nert noch in Einzel­tei­len an frühere Zeiten. Ich kann da nicht vorüber gehen. Viele Lebens­weis­hei­ten von den Nach­bar­ti­schen. “Ich sage dir: Wenn se mit Mädchen anfan­gen, da weiß man doch nich, wo dett endet.”
“Mit Kindern und heira­ten.”
“Ooch wenn se nich heira­ten.”
“Aber dett müssense alleen wissn.”
“Nur, dann sitzen se da und ziehn die Schlappe runter.”
“Da sind die Italie­ner anders. Guck bloß mal den Julio, den klei­nen Arsch!”
Verständ­nis­vol­les Lachen beider Frauen: Die Italie­ner sind anders: ein Trost offen­bar inner­halb der Gesell­schaft erwach­se­ner deut­scher Kinder, die — kaum dass das Leben begon­nen hat — die Schlappe runter hängen lassen.

Viel Türki­sches in der elegan­ten Biegung der Badstraße, die ich nun hinun­ter gehe, um — ohne dieses ansehn­li­che Stadt­ar­ran­ge­ment für heute einer Beschrei­bung zu würdi­gen — am alten Luisen­bad in die Trave­mün­der Straße einzu­bie­gen. Ange­nehm land­schaft­lich läuft die mich als Lübe­cker heimat­lich anmu­tende Straße an der Panke und an einem weißen Neubau entlang auf die Stock­hol­mer Straße zu: Trave­münde nach Stock­holm — das kann ich mir vorstel­len. Trave­münde ist einer der größ­ten euro­päi­schen Fähr­hä­fen, meis­ten geht’s von dort nach Finn­land, aber auch Malmö wird ange­steu­ert, nicht direkt Stock­holm, aber die Rich­tung ist rich­tig.
Die Berli­ner Stra­ßen­na­men verlei­ten ja oft zu solchen Reisen im Kopf: Über diese Unauf­merk­sam­keit habe ich die Stock­hol­mer verpasst und bin in die Kolo­nie­straße gera­ten. Gegen­über dem aus einer ande­ren Stadt­epo­che rosa­far­ben herüber ragen­den Haus Nr. 131, neben Imbiss 61 unter dem Neubau 23/24 hindurch führt ein gut ausge­dach­ter Fußweg, entlang an einzel­nen Erin­ne­rungs­stü­cken an das Wedding des Arbei­ter­elends, vorüber an einer Kita zur Panke. Sie ist hier gerade wie ein Kanal, baum- und strauch­be­stan­den, tiefer liegend, fließt sie fast gar nicht, schwarz, aber zutrau­lich liegt sie da, die Enten spie­len.
Eine mehr­stu­fige Treppe führt hinüber, und das ist dann die Stock­hol­mer Straße. Viel­mehr: das ist ein Stück der Stock­hol­mer Straße. Mit der Stock­hol­mer Straße kann man sich leicht täuschen. Sie ist nicht eindeu­tig. Wenn man das Stra­ßen­schild gefun­den hat, hat man sie viel­leicht noch nicht gefun­den. Unten ein Stück, oben ein Stück, nicht mitein­an­der verbun­den.
Eine Freun­din von mir wohnte in Nr. 31; da habe ich schon gele­gent­lich — im wört­li­chen Sinne — die Kurve nicht gekriegt. Ein Stück der Straße kommt in den bauhis­to­ri­schen Büchern vor: ein Wohn­block von Hugo Häring, dem Baumeis­ter, der den “Massen­woh­nungs­bau und seine Recht­wink­lig­keit” kriti­sierte und dann doch selbst auf die Recht­wink­lich­keit herein­fiel. Stadt­land­schaft­lich ist an der Stock­hol­mer Straße nichts falsch, das Arran­ge­ment ist gelun­gen. Dies­mal denke ich nicht an die Geschichte, die noch in der Weima­rer Zeit beider­seits an die Panke heran ragte. Der Anblick des Wedding hat sich von der Jahr­hun­dert­mitte bis heute sehr verän­dert. Viel ist abge­ris­sen, saniert, und viel ist an diesen Abris­sen und Sanie­run­gen verdient worden.

Ich bin nicht auf der Seite dieser Kriti­ker. Ich bin der Meinung, dass Zentral­hei­zung, warmes Wasser und eige­nes Bad Errun­gen­schaf­ten sind, für die man Fassa­den­nost­al­gien zu opfern hatte. Alles in allem. Die Schu­len an der Goten­bur­ger Straße, durch die ich jetzt laufe, sind gera­dezu Schul­bur­gen. Der Name Wilhelm Hauff trös­tet da fast. Wenn man an seine Märchen, aber nicht, wenn man an die Kürze seines Lebens denkt.
Ich über­quere die Wollank­straße in die Biesen­tha­ler. Wenn ich den Titel einer Berli­ner Muse­umfas­sa­den-Straße verge­ben sollte, würde ich diese hier ernst­haft in Erwä­gung ziehen. Ihre geschlos­se­nen Fassa­den­fron­ten zeigen schöne Einzel­stü­cke, zum Beispiel Nr. 11 oder Nr. 8 mit dem klei­nen Stadt­gar­ten nebenan.
Es ist vier Uhr nach­mit­tags, es dunkelt, die Zurufe der Fußball­spie­ler im Hinter­grund sind türkisch. Links in der Wrie­ze­ner Straße, auf die die Biesen­tha­ler zwischen den Knei­pen La Palma und Stor­chen­nest trifft, liegt das Wrieze-Haus, Drogen­be­ra­tungs­stelle; das europa-berühmte Sozi­al­päd­ago­gi­sche Insti­tut der AWO ist der Träger; ich bin da im Vorstand; lange schon, sie können mich längst entbeh­ren, die Zeit ist über mich hinweg gegan­gen.
Der Kiez Biesen­tha­ler, Wrie­ze­ner Straße hat etwas abge­schlos­se­nes, das Stadt­quar­tier ruht in sich; zugleich unver­wech­sel­bar und typisch, Ich kehre zurück zur Osloer Straße; sie hebt sich nun zur Böse­brü­cke an, die selbst in ihrer Mitte hin ansteigt in einem flachen Bogen, den die Brücken­kon­struk­tion zum grauen Himmel hin wieder­holt.
Abwärts, auf der ande­ren Seite heißt die Straße Born­hol­mer; das ist nun Prenz­lauer Berg, aber die Straße ist trotz der bereits veren­gen­den und die Blicke verstel­len­den Brücke so sehr dieselbe, dass man sich die vermau­erte Grenze hier nur noch in Remi­nis­zen­zen vorstel­len kann. Das ist der Stoff gewor­den vom “Damals war’s”.

Ich verweile auf der Brücke und lerne das Abfal­len und Aufstei­gen der Brücke auswen­dig: zur U‑Bahn, Hoch­bahn abwärts, unter den gelben Wagen, die die weit entfern­ten Fassa­den­fron­ten zusam­men­fas­sen, hindurch und drüben wieder hinaus, bis zur Höhe Grei­fen­ha­ge­ner Straße, wo die Magis­trale weiter nörd­län­disch, aber nun Wisbyer Straße heißt. Ich biege nach links, nord­wärts, in die Kurze Straße ein, die mich — nun schon in Pankow — in die Thule­straße führt. Da fing das Unter­neh­men an, das als “Bezirks­jour­nal Berlin” jetzt Monat für Monat mehr als eine halbe Million Exem­plare verbrei­tet. Von Stock­holm nach Thule — dieser Titel fällt mir jetzt ein: vom heuti­gen ins sagen­hafte Skan­di­na­vien hieße das. Werden sich andere Gedan­ken einstel­len, wenn ich den Weg umge­kehrt liefe: aus dem Sagen­haf­ten ins Moderne?

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Sargoth, CC0 1.0

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