Von Borsig zu Fontane und darüber hinaus

Borsig, wenn man ihn auf seinem Grabe betrach­tet, ist ein Herr. Als ob er immer einer gewe­sen wäre. Das Grab­mal auf dem Doro­theen­städ­ti­schen Fried­hof ist ein Denk­mal. Am Fuße des Chefs, des männ­li­chen Schö­nen, auf flachem Stein­me­dail­lon, die Ehefrau. Als ob es seine Mutter wäre: unten und alt; er: oben und frisch. Das ist keine 150 Jahre her. Viel ist nicht mehr übrig von Borsigs Glanz. War er über­haupt glän­zend? Das persön­li­che Leben aller­dings verlangte Aufmerk­sam­keit. Es war früh­zei­tig gefer­tigt nach dem Muster, das später, aus den USA über­mit­telt, welt­be­kannt wurde: Vom Schuh­put­zer zum Milli­ar­där; hier: vom Zimmer­mann und vom geschei­ter­ten Bauschü­ler, dem Beuth, mit dem er nun auf demsel­ben Fried­hof verei­nigt ist, riet, sich einen ande­ren Beruf zu suchen, zum Indus­trie­boss der Welt­liga. 100 Jahre immer­hin, unge­fähr, 100 Jahre, hielt sein Indus­trie­im­pe­rium, durch zwei Welt­kriege geför­dert.
1841 die erste Loko­mo­tive, 1843 schon zehn, 1848 — im Jahre der Revo­lu­tion, als die Arbei­ter sich erho­ben und von der Libe­ra­li­tät des Herrn Borsig plötz­lich nur noch wenig übrig war — immer noch 47; dann sprung­haft mehr, von Jahr zu Jahr, 119 Stück 1856; da war Borsig aus der Chaus­see­straße schon ausge­zo­gen und hatte sich in Moabit, offen zur Spree, geschlos­sen zu Straße, eine Villa könig­li­chen Ausma­ßes gebaut, Park­an­lage von Lenné. Die Arbei­ter blie­ben, wo sie waren. Nur Borsig war ein feiner Mann gewor­den.

Mit Rechts­stu­den­ten des ersten Semes­ters habe ich Fontane gele­sen: Frau Jenny Trei­bel oder: Wo sich Herz zu Herz find’t. 1892 ist dieser Roman erschie­nen, also gerade in der Zeit, als das BGB entstand, das Bürger­li­che Gesetz­buch, das bis zum heuti­gen Tage die priva­ten Rechts­ver­hält­nisse in diesem Lande bestimmt. Ein Jahr­hun­dert­werk, vier deut­sche Staats­for­men hat es über­stan­den, oder sogar fünf, wenn man die DDR mitzählt, nach deren Ende es auch dort wieder in Kraft getre­ten ist, wo es die meiste DDR-Zeit lang aufge­ho­ben war. An einem nebli­gen Novem­ber­tag mache ich mit den netten, lern­be­rei­ten Studen­tin­nen und Studen­ten einen Spazier­gang, dessen Ziel Fonta­nes Grab auf dem zwei­ten Fran­zö­si­schen Fried­hof an der Liesen­straße war. Wir trafen uns auf dem Doro­theen­städ­ti­schen Fried­hof. Ein biss­chen wegen Fichte, dessen freie Ideen über Ehe und Fami­lie gerade nicht ins BGB einge­gan­gen waren; aber vor allem wegen Borsig. Am Grab von Borsig wollte ich ein biss­chen über Trei­bel spre­chen, den Kommer­zi­en­rat, der Jenny, die Bürs­ten­bin­ders­toch­ter, gehei­ra­tet hatte, die nach­her, den ganzen Roman lang, nicht mehr wahr­ha­ben wollte, dass sie aus der Adler­straße stammte. Dann woll­ten wir von Borsig zu Fontane wandern und an Fonta­nes Grab einige Fonta­ne­texte vorle­sen. Damit wir uns für immer erin­nern. Wir haben es so auch gemacht. Die Chaus­see­straße entlang durch die Schwartz­kopff­straße, die Pflug­straße und von hinten hinein in den fran­zö­si­schen Fried­hof. Als wir unsere Lesung von dem restau­rier­ten Grab hinter uns hatten und uns die Füße froren, gingen wir um die Ecke ins Bistro “Stadion der Welt­ju­gend” in der Chaus­see­straße und tran­ken Glüh­wein.

Diesen Spazier­gang empfehle ich Ihnen, liebe Lese­rin­nen und Leser, auch. Eine Kolle­gin beglei­tete uns, fort­schritt­lich denkende Frau: “Ich dachte, ich höre hier von Dich­tern und Schrift­stel­lern”, sagte sie, “und da stehe ich nun vor dem Grab eines Indus­trie­bos­ses”. Da stand sie aber rich­tig. Hier, auf dem Doro­theen­städ­ti­schen Fried­hof, Borsigs Grab (und das von Beuth weiter oben) und gegen­über, an der Chaus­see­straße, das erste Verwal­tungs­haus der Borsig­schen Metall- und Eisen­guss­firma. Da hinten aber, jenseits der Bahn, die Elends­quar­tiere.
Die Chaus­see­straße aufwärts, seit 1821 entstand Fabrik für Fabrik, Metall, Eisen­guss, Loko­mo­ti­ven, Eisen­bahn­wag­gons. Und jenseits der Eisen­bahn, begin­nend mit den Wülknitz­schen Fami­li­en­häu­sern, Ecke Tor- und Garten­straße Elends­quar­tier für Elends­quar­tier: hier die Welt­macht, die Welt­stel­lung, die Welt­kon­kur­renz, Deutsch­land oder England; drüben die Ausbeu­tung, Ausnut­zung, Inhu­ma­ni­tät, Preu­ßen wie Rom: Borsig wie Cicero, tech­ni­sche Entwick­lung und hohe Kultur auf den Schul­tern von Skla­ven. Den Fried­hof, auf dem die legen, die diese Welt­stel­lung Berlins mit frühem Tod bezahl­ten, können wir nicht besu­chen. Die Gräber sind ohne Denk­mal, einge­eb­net. Auch kein lite­ra­ri­sches Denk­mal. An Fonta­nes Grab müssen wir auch anmer­ken, dass er zwar die Zwie­spälte des Bürger­tums, aber nicht die Zwie­spälte der Zeit beschrie­ben hat.
Die Studen­tin­nen und Studen­ten frie­ren. Die schöne Antje setzt sich auf einen benach­bar­ten Grab­stein und stützt das Kinn in die Hand, als ob sie nach­dächte. Eine Grippe kündigt sich an. “Von ferne hört man die Geräu­sche der Riesen­stadt, deren gigan­ti­scher Verkehr niemals wirk­lich schweigt”. So laut ist es hier gar nicht. Die Geschichte ist ganz still. In Wirk­lich­keit gibt es kein Schloss Stech­lin — um bei Fontane zu blei­ben -, auf das man sich flüch­ten kann, wenn “weder das Groß­städ­ti­schen noch das Mili­tä­ri­sche, weder Sport noch Kunst ihren Reiz behaup­ten, den sie anfäng­lich verspro­chen hatten”. Und wenn man Borsig ansieht auf seinem Denk­mal, sein Geschäfts­haus im Rücken, dann muss man wissen: So sehen die Männer aus, so wollen sie, dass ihrer gedacht werde, die Berlin errich­tet und zerstört, die es erho­ben und die es nieder­ge­drückt haben.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Zufallstreffer

Bücher

Berlin Bleierne Stadt

Berlin im Zeichen von Blut­mai und Schwar­zem Frei­tag. Während in den Stra­ßen Kommu­nis­ten und Natio­nal­so­zia­lis­ten immer erbit­ter­ter aufein­an­der­pral­len, führt der Jour­na­list Kurt Seve­ring einen verzwei­fel­ten Kampf der Worte um die krän­kelnde deut­sche Demo­kra­tie. Seine Freun­din […]

Kein Paradies

Abschiebung verhindert

Heute konnte die Abschie­bung eines 27-jähri­­gen paki­sta­ni­schen Flücht­lings am Flug­ha­fen Tegel verhin­dert werden. Etwa 50 Unter­stüt­zer hatten sich vor dem Schal­ter von Air Berlin versam­melt, von wo aus der Mann depor­tiert werden sollte. Mit Trans­pa­ren­ten […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*