Als die vierzehnjährige Inge im Sommer 1944 mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder aus Masuren nach Berlin zurückkam, hatte sich Friedenau verändert. Ihre ausgebombte Tante Käthe, die jetzt bei ihnen in der Rheinstraße wohnte und die Wohnung hütete, holte sie vom Bahnhof Friedrichstraße ab. „Heute Nacht hat es einen Großangriff gegeben“, sagte sie, „alle Fensterscheiben sind kaputt, und die Wohnzimmerlampe liegt auf dem Tisch!“
So fing es also gleich an, man musste sich wieder auf ein Leben mit Trümmern und Bombenangriffen einstellen. Das Leben, das sich in den letzten anderthalb Jahren in der Abgeschiedenheit eines Dorfes, wo sie noch mit Pferd und Wagen fuhren, und in der Kleinstadt Lyck abgespielt hatte, war nun zu Ende – sie war wieder zu Hause, und sie freute sich darüber, denn hier gehörte sie her, trotz allem; trotz der gestörten Nächte durch die Fliegeralarme, trotz der Angst, die man hatte, wenn man die Flugzeuge brummen und die Bomben rauschen hörte. „Wenn man die Bomben hört, treffen sie einen nicht“ wurde gesagt. Ob das stimmte?
Die Nachricht, dass „die Ecke runter ist“, hatte sie schon in Masuren erreicht – gemeint war damit das große Eckhaus Rheinstraße/Kaiser(Bundes-)allee, das vollkommen zerstört war, so dass man jetzt vom Küchenfenster aus die Schlossstraße entlang sehen konnte. Auch von der großen Häuserfront von der Bornstraße am Wochenmarkt an bis zur Lefèvrestraße waren nur noch Ruinen übrig – ein erschütternder Anblick. Lediglich einige Läden im Erdgeschoss und zum Glück, wie sie fand, das kleine Kino waren noch in Betrieb. Das Haus an der Ecke Roennebergstraße hatte sie noch selbst brennen sehen, bevor sie Berlin im Frühjahr ’43 verlassen hatten, als sie nach einem nächtlichen Angriff durch die Straßen gingen auf der Suche nach den begehrten Granatsplittern, die die Flakgeschosse verstreut hatten und die beliebte Tauschobjekte in der Schule waren. Jeder hatte so seinen Schuhkarton voll…
Herr Gottesmann, der im Flur des Nachbarhauses auf Holztischen Wäsche verkauft hatte, war schon lange weg, nach Amerika, sagten einige. Aber es hieß auch, die Juden würden abgeholt und in Lager gesperrt. Man sah nur noch wenige mit dem gelben Stern an der Kleidung. Das war ein Thema, das Angst machte und an das sie nicht zu denken wagte. Ihre Mutter wusste auch nichts Genaueres, und der geliebte kommunistische Onkel, mit dem sie vielleicht darüber hätte reden können, war zum Strafbataillon 999 eingezogen worden und sollte in Jugoslawien kämpfen (er kam nie wieder).
Es begann eine Zeit vieler Freiheiten. Morgens musste Inge zum Appell in der Königin-Luise-Schule antreten und traf dort neben anderen schon wieder Zurückgekommenen auch ihre Freundin Sonja. Sie hatten sich fast zwei Jahre nicht mehr gesehen, da gab es viel zu erzählen. Mit ihren beiden Hunden, dem Terrier Sherrie und dem Dackel Bazi, mit denen sie in treuer Eintracht ihr Essen teilten, fuhren sie manchmal zum Baden an den Schlachtensee, aber so mancher geplante Ausflug musste wegen anfliegender feindlicher Kampfverbände abgeblasen werden. Die Hitlerjugend kümmerte sich nicht mehr um sie, da auch die meisten gleichfalls jugendlichen „Führerinnen“ nicht in der Stadt waren. So blieben sie „Jungmädchen“, der mit 14 Jahren fällige Übergang in den BDM fiel aus. Die Freundinnen waren nicht traurig darüber, nicht mehr andauernd zu „Diensten“ und Appellen beordert zu werden. Sie waren mit ihren Rädern unterwegs und gingen viel ins Kino. „Kolberg“ wurde gespielt mit viel Pathos und der „Reichswasserleiche“ Kristina Söderbaum, und im Titania-Palast wurde „Die Frau meiner Träume“ mit Marika Rökk uraufgeführt, ein Revuefilm, der ihnen gefiel und dessen Schlager nachgesungen wurden: „In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine“, was ja ganz aktuell war, denn meistens verbrachte man die Nächte zusammen mit der Hausgemeinschaft im Luftschutzkeller…
Sigrid Wiegand
in: Die Stadtteilzeitung
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