Äußerster Süden, nächster Norden

Mit Amseln und Finken könnte dieser Text begin­nen, die rings­um­her schla­gen, und mit Enten, Schnep­fen, Bekas­si­nen enden und mit Reihern, die hoch oben in den Lüften schreien. Alles histo­risch.
Gegen­wär­tig bin ich auf dem Weg vom nahe gele­ge­nen Nord­pol, nörd­lichs­ten Punkt des entste­hen­den Neu-Bezir­kes Trep­tow-Köpe­nick zu seinem äußers­ten Süden: von einem Punkt, der viel­leicht schon im Wasser der Spree liegt, der Kreuz­ber­ger Lohmüh­len-Insel gegen­über, ein biss­chen nörd­lich der Pusch­kin­al­lee, da, wo sie im Schle­si­schen Busch, am Schle­si­schen Tor die Schle­si­sche Straße wird und dann die Köpe­ni­cker Straße, die Leopold Trei­bel herauf­ge­rit­ten kam: Theo­dor Fonta­nes trau­ri­ger Held aus “Frau Jenny Trei­bel oder: Wo sich Herz zu Herzen find’t”.
Es findet sich eben nicht Herz zu Herzen in der bürger­li­chen Ehe- und Fami­li­en­mo­ral. “Das Ehe- und Fami­li­en­recht des BGB ist das Erzeug­nis, dieser wahr­haft doppel­ten Moral”, habe ich in einem juris­ti­schen Buch geschrie­ben; mit Studen­tin­nen und Studen­ten des Anfangs­se­mes­ters habe ich vori­ges Jahr wieder mal diesen Roman des Jubi­lä­ums-Fontane gele­sen und wieder hat er sich als ein Quel­len­text erwie­sen, als ein texte capi­tal: dieses BGB gilt ja immer noch, oder genauer: hier, wo ich jetzt bin, hinter der zeit­geist­li­chen Arena, Jugend­dis­co­thek, an den Trödel­hal­len, die sich sams­tags eindrucks­voll öffnen, da wo aufwärts, ostwärts ein Ufer­weg entsteht an den Neubau­ten entlang, die bei den Trep­towers an der Elsen­brü­cke weit sicht­bar enden, hier also, wo es von der DDR eine zeit­lang verab­schie­det worden war, gilt das hundert­jäh­rige Bürger­li­che Gesetz­buch längst wieder.
Nein, nein: alles ist wie vor hundert Jahren, der privat­recht­li­che Kapi­ta­lis­mus ist wieder da, mit seinen Verträ­gen, mit seinen Verspre­chen und mit seinem fami­liä­ren So-tun-als-ob, sagen wir: mit seiner Trei­bel­haf­tig­keit, nein, nein, das will ich nicht sagen, weil es ganz falsch wäre.

Aber hier an diesem Bezirks­nord­pol von Trep­tow-Köpe­nick, wohin ich doch durch eine so genannte Reform verwie­sen bin, also durch einen poli­ti­schen Akt, der sich etwas Neues, Vorwärts­wei­sen­des zuer­kennt und den Namen eines Jahr­hun­dert­werks gefal­len lässt, macht es Eindruck auf mich, dass ich am Fuße der stadt­bild­prä­gen­den Trep­towers, die doch auch noch im nächs­ten Jahr­hun­dert voll vermie­tet sein wollen, jenen gefühls­un­si­che­ren Kapi­ta­lis­ten­sohn vorbei­rei­ten sehe, der bei Zenner früh­stü­cken und auf Weisung seiner Mutter Milch trin­ken will, früh­mor­gens, gegen sieben, und hier — viel­leicht in Höhe der Bewag-Haupt­ver­wal­tung, wo der Gewerk­schafts­se­kre­tär Direk­tor ist und nun alles tut, woge­gen er früher demons­triert hat: ich könnte ihn auch einen Trei­bel nennen — die Amseln und die Finken rings­um­her schla­gen hört.

Bis zur S‑Bahn am Park sind es nur ein paar Minu­ten, schnell bin ich in Grünau, dort in die hoch land­schaft­li­che Tram 68, Wald und Wasser, dann Alt-Schmöck­witz, wo das die Bahn beglei­tende schnur­ge­rade Adler­ge­stell schließ­lich doch endet, mit dem klei­nen 168er ein klei­nes Stra­ßen­stück ostwärts, das über die freund­li­che Schmöck­wit­zer Brücke wie ein Gelenk die schnur­ge­rade Stadt­straße mit der mäßig geschwun­ge­nen Wald­straße verbin­det, die nach Werns­dorf führt und von der im rech­ten Winkel in ganz unge­stör­ter Schnur­ge­ra­dig­keit der Schmöck­wit­zer Damm abgeht, über den mich der ausflüg­le­ri­sche Bus bis zur Fähr­al­lee in den Süden bringt.
Die Fähr­al­lee in Nord-Rauch­fangs­wer­der führt zwar an den Punkt, an dem ich meinen lite­ra­ri­schen Kopf in den Dahme-Wind halten will, aber nicht an den südlichs­ten Punkt von Trep­tow-Köpe­nick; der liegt im eng benach­bar­ten Süd-Rauch­fangs­wer­der, etwas südlich der südli­chen Biege des Moßkopf­rings, den die Frem­den — wie der Einhei­mi­sche sagt gerne mit einem langen O spre­chen, während er doch nach dem alten Rauch­fangs­wer­der­aner, der ihm den Namen gab, kurz zu spre­chen ist.
Zuvor ein Besuch auf dem klei­nen Fried­hof, man müsste sagen Fried-Garten, hinter dem nied­ri­gen Holz­gat­ter-Tor, die Buchen zeigen über den Toten phan­ta­sie­rei­ches Äste­ge­wirr, einige Bäume sind auch schon tot, halten nur noch als Holz aus, wie die Toten drun­ten oben nur noch als stei­nerne Namens­schil­der: hier muss gut ruhen sein, Blick auf Zeuthe­ner See und Dahme, sanft in den Armen des wach­sen­den Verges­sens.
Ich tele­fo­niere von Berlins südlichs­ter Tele­fon­zelle, obwohl ich das Handy in der Tasche habe: denn was wäre das für ein Satz: Als ich dem südlichs­ten Punkt Berlins so nahe war, wie in der Privat­heit der Gärten und klei­nen Häuser möglich, klappte ich mein Moto­rola StarTac auf, gab die PinNum­mer ein, drückte O.K., ließ mich fragen “Ruf?” und rief Dich an, um Dir zu sagen: So schnell ging das vom höchs­ten Norden von Trep­tow-Köpe­nick bis in seinen äußers­ten Süden, von einem hoch­städ­ti­schen Punkt zwischen Elsen- und Ober­baum­brü­cke, hinter der der Fern­seh­turm aufragt wie eine Nadel, die den Metro­po­len­aus­schnitt Berlin fest­hef­tet an der märki­schen Erde und an dem Wasser­ge­lände, das hier im Süden eine inten­si­vere Wirk­lich­keit ist als die prope­ren Fertig-Häus­chen, mit denen sich die mensch­li­che Idylle das schafft, was sie “Natur” nennt?

Ich bin nun also die gepflegte Fähr­al­lee bis zum Ende gewan­dert, bis zu dem Steg, Unbe­fug­ten Betre­ten verbo­ten, es ist in dieser Gegend, deren durch­ge­hende Privat­heit sowieso jeden Frem­den aufmerk­sam mustert, über­haupt viel verbo­ten, je eige­ner die Heime, umso schär­fer die Gren­zen.
Ich bin aber am Steg der Fähr­al­lee dicht genug am Wasser, um drüben am ande­ren Ufer den Land­vor­sprung und die kleine Bucht zu sehen, die auf den Karten “Hankels Ablage” heißt. Der Name versetzt mir einen inne­ren Kick: Baron Botho von Rienä­cker, der später und eigent­lich jetzt schon an den gesell­schaft­li­chen Verhält­nis­sen resi­gnie­rende Garde­of­fi­zier, und Lene, Lene Nimptsch aus der Gärt­ne­rei am Zoo. Im elften bis vier­zehn­ten Kapi­tel von “Irrun­gen, Wirrun­gen” verbrach­ten sie hier Stun­den, deren liebe­volle Privat­heit durch andere denun­ziert wurde, die mit Offi­ziers­ka­me­ra­den und ihren Damen zu teilen waren; von den Näch­ten schweigt Fontane hier wie immer.
“Und nun lassen Sie uns ansto­ßen, ja auf was? Auf das Wohl von Hankels Ablage”, sagt der Baron zu dem Wirt. Zwei mäch­tige Vögel schwe­ben im Halb­dun­kel über das Wasser.
“Wilde Gänse?”
“Nein, Reiher. Der ganze Forst hier herum ist Reiher-Forst.”
“Wissen Sie, dass ich Sie beneide?”, Rienä­cker zu Hankels Nach­fah­ren. “Enten, Schnep­fen, Bekas­si­nen. Es über­kommt einen eine Lust, dass man’s auch so gut haben möchte. Nur einsam…”. Wir wissen ja längst: es geht alles schief.
Gäbe es eine Fähre hinüber, wäre es nur ein klei­nes Stück Wegs bis zur S‑Bahnstation Zeuthen. Die Bahn brächte mich direkt an den oberen Kurfürs­ten­damm, wo ich wohne, es dauert nur ein knap­pes Stünd­chen. In Berlin ist das Weite viel­fach recht nah.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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