Fallende Grenzen

Wenn aus Kreuz­berg und Fried­richs­hain ein einzi­ger Bezirk wird — viel­leicht heißt er Ober­baum -, dann bedeu­tet das, dass eine Grenze wegfällt. Eine poli­ti­sche Trenn­li­nie wird gestri­chen. Linie sagt man. Weil man sich Karten vorstellt. Aber in der sinn­li­chen Wirk­lich­keit gibt es keine solchen Linien. Wenn man sich in dieser Wirk­lich­keit vornimmt nach­zu­se­hen, wo diese “Linie” entfällt, was erwar­tet man dann zu sehen? Mal sehen. Was man schon gese­hen zu haben meint, verglei­chen mit dem, was man sieht, wenn man lang­sam dahin­geht: lang­sam entlang am Entfal­len­den, durch die Gegen­wart die Vergan­gen­heit betrach­tend, und sich — selbst ein Entfal­len­der — die Zukunft vorstellt.

Mit der U1 bis Görlit­zer Bahn­hof, über den Lausit­zer Platz, erst­mal ins Café Lieber­mann. Gestern haben wir uns noch so heftig Sommer gewünscht, dass wir heute nicht über Sommer­hitze klagen dürf­ten. Alle Bänke um die Emma­us­kir­che, lehnen­los, sind besetzt, belegt und bele­gen, im Schat­ten, Penner (sagt man) mit und ohne Hunde, viele Hunde. Ein Park ist das nicht. Eine Wiese mit vielen Tram­pel­pfa­den. Eine gemäch­li­che Stim­mung. Hier hat es niemand eilig. An der Bar hinter mir schimp­fen zwei Männer. Die Staats­thea­ter schmei­ßen das Geld raus, damit sie im nächs­ten Jahr dieselbe Bewil­li­gung krie­gen. Kostüme für die Chor­sän­ger aus Stof­fen extra aus Florenz, 3000 Mark das Stück, die liefen rum wie Herzöge, die Penner. Ganz rich­tig, denke ich, die Unter­hal­tung für die “besse­ren Kreise” lässt sich der Staat viel zu viel Geld kosten, “Kunst” — das ist ein unde­mo­kra­ti­scher Trick. Je länger ich da zuhöre — ich kann mir doch die Ohren nicht verstop­fen -, umso feuri­ger wird die Stim­mung, jetzt habe ich den Eindruck: Es brodelt.
Es brodelte hier oft. Man weiß manches über die Gegend. KP-Bezirk Südost. Erwin Beck, der alte Sozi, erzählte manches, später. Eisen­bahn­straße Nr. 5 hatte Wilhelm Leusch­ner, der Gewerk­schafts­füh­rer, seine Firma für Appa­ra­te­bau und Leicht­me­tall­ver­ede­lung, aus der er gegen die Nazis konspi­rierte. Gefal­len unterm Fall­beil, viel­mehr: aufge­hängt, am 24.9.1944. Seine letzte Botschaft lautete: Schafft die Einheit. Welche Einheit meinte er? Der Arbei­ter­klasse? KPD — SPD? Die NSDAP war genauso Arbei­ter­klasse.

Vorhin hat mich eine Lese­rin ange­ru­fen, sagte: Alle die alten KP- und SPD-Bezirke, das sind jetzt Türken-Bezirke. Entschul­di­gen Sie, alles, was Recht ist. Die Geschich­ten schie­ben sich in- und über­ein­an­der, der rote Faden unsicht­bar, von der Rolle gefal­len, entfal­len, rot fällt weg, wird gestri­chen.
Die Kirche ist rot. Alle diese Kirchen des preu­ßi­schen Staats­kir­chen-Funda­men­ta­lis­mus sind rot, back­stein­rot, beru­hi­gungs­rot. Die Kirche auf dem Lausit­zer Platz heißt Emma­us­kir­che. Zwei Jünger waren — man sagt uns nicht: warum — auf dem Weg nach Emmaus bei Jeru­sa­lem, heißt: warme Quelle.
Plötz­lich kam ein Drit­ter dazu, es war der auf Erden noch nicht ganz entfal­lene Jesus, drei Tage nach seinem Tode. In der Story kommt nun bald das schöne Wort, ich höre es gerne, es hat so was Kind­lich-Zutrau­li­ches: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden. Später aßen sie gebra­te­nen Fisch und Honig­seim. Lukas, Kapi­tel 24, am Ende. Viele inter­es­sie­ren sich hier für solche Geschich­ten wohl nicht mehr. Die Emma­us­kir­che war mal die größte Kirche von ganz Berlin, 2600 Sitz­plätze, mehr als der Dom.
Der Baumeis­ter war wirk­lich ein Meis­ter, Super­klasse. August Orth. Er hat zur glei­chen Zeit mehrere Kirchen dieser Art gebaut, u.a. Geth­se­mane und Himmel­fahrt, aber auch Bahn­höfe: der Görlit­zer Bahn­hof, der ehedem da stand, wo jetzt der Görlit­zer Park ist: auch von August Orth, und die Idee zur Stadt­bahn, gebaut 1875 bis 1882, gerade wieder erneu­ert: auch. Damit sind wir bei der Eisen­bahn.

Die Eisen­bahn­straße, durch die ich jetzt gehe, heißt nach der “Verbin­dungs­bahn”, dem “Verbin­der”, der von 1850 bis 1871, bis zur Ring­bahn, die Berli­ner Bahn­höfe mitein­an­der verband. Aus mili­tä­ri­schen Grün­den. Um die Trup­pen schnell hin und her zu bewe­gen.
Die preu­ßi­schen Gene­räle haben rasch erkannt, was sie an der Eisen­bahn hatten. Zivil­ver­kehr war nach­ran­gig. Bis 1905 wurde noch Kohle eisen­bahn­mä­ßig durch die Eisen­bahn­straße beför­dert, vom Schle­si­schen Bahn­hof zu den Gaswer­ken in der Gits­chi­ner Straße.

Denn natür­lich fuhr die Eisen­bahn durch die Eisen­bahn­straße über das Wasser. Die Mauer, die die Brom­mystraße zur Sack­gasse macht, ärgert mich. Ich stehe nebenan, ein Stück­chen auf dem Grund­stück von Zapf, Zapf-Umzüge. Von hier aus kann ich über die Spree sehen. Da sehe ich noch einen Rest vom Brücken­pfei­ler der entfal­le­nen Brom­my­brü­cke. Dort sonnen sich jetzt die Schwäne und Enten. Und drüben geht die Straße nicht weiter, wie es manche Karten noch melden.
Dort drüben: Mauer­reste und Sand­berge. Die Grenze zwischen Kreuz­berg und Fried­richs­hain ist immer noch von abwei­sen­der Dichte. Hinter der Schil­ling­brü­cke gibt es einen klei­nen Tram­pel­pfand am Kai entlang. Da kann das Volk sich durch­schlän­geln. Dann kommt die East-Side-Gallery. Ganz schöne Bilder. Aber ich kann mir nicht helfen: die ganze Mauer muss weg, Kunst hin, Kunst her. Hier zwischen Kreuz­berg und Fried­richs­hain war die Spree früher wie ein Platz zwischen den Gewer­be­be­trie­ben beid­seits, es gab kein hüben und drüben, das Wasser verband, heute trennt es, noch immer.

Ich gehe in pral­ler Sonne die quälende Mühlen­straße entlang, der Rummels­bur­ger Platz kaum noch Platz, eine kleine Birke gibt mir ein biss­chen Schat­ten, dass ich die Stelle suchen kann, wo die Brom­my­brü­cke, die nach dem 48er Frei­heits­ad­mi­ral Bromme hieß, herüber­kam und die Eisen­bahn mit dem schö­nen Namen “Verbin­der”, zusam­men­bin­den, was zusam­men­ge­hört, und die Wunden versor­gen, verbin­den konnte, die die Zeit geschla­gen hat.
Die Grenze, die entfal­len wird, wie ich hoffe: nicht nur als poli­ti­sche Linie, also die Grenze zwischen dem heuti­gen Kreuz­berg und dem heuti­gen Fried­richs­hain verläuft noch bis zur Lohmüh­len­in­sel, gegen­über der Moder­sohn- oder der Danne­cker­straße, immer am Ufer der Spree entlang, durch den Garten des Stadt­rats Cuvry, durch den Garten der Trei­bels (können wir sagen im Fonta­ne­jahr). Ecke Brommy-/Köpe­ni­cker Straße im könig­li­chen Train-Depot wohnte, lese ich im Adress­buch von 1852, ein Haupt­mann Fontane. Theo­dor Fonta­nes Sohn war zwar auch Haupt­mann, aber der kanns nicht gewe­sen sein. Als der gefal­len war, einfach gestor­ben am Blind­darm, und der Vater anfing, ans eigene Entfal­len zu denken, hatte er “Unwie­der­bring­lich” schon hinter sich, aber “Jenny Trei­bel” und die Köpe­ni­cker Straße noch vor sich. Dort um die Ecke, am Schle­si­schen Tor, sitze ich jetzt im “Klos­ter”, trinke Milch­kaf­fee und Wasser, es ist mir einge­fal­len, die Schuhe auszu­zie­hen und die Beine hoch­zu­le­gen. Das fällt hier nicht auf. Im glasen­den Sommer­mit­tag entfällt für ein schwa­ches halbes Stünd­chen die Grenze zwischen Tag und Traum.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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2 Kommentare

  1. Vielen Dank für den Arti­kel. Aber ich muss schon sagen, dass das ja ein recht utopi­sches Szena­rio ist. Auch wenn “Ober­baum” witzig klingt. Das setzt sich nie durch…

  2. Der Text ist ja von Mitte der 90er Jahre, da war das mit den neuen Bezirks­na­men noch nicht so klar. Aber Ober­baum hätte mir auch besser gefal­len als Fried­richs­hain-Kreuz­berg.

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