Erneut. Schon mehrmals habe ich das sowjetische Ehrenmal im Park von Treptow und das Denkmal auf dem Platz des 23. April in Köpenick zu beschreiben versucht. Jedesmal habe ich schmähende Briefe bekommen. Die einen wollen Heldenlieder, die anderen das politische Igittigitt. Worüber wir uns nicht einig sind, darüber können wir keine Denkmäler herstellen, über die wir uns einig wären.
Die Orte sind eigentlich unvergleichbar. Eine Stadtreise, um an einem Vormittag beide Denkstätten zu besuchen, also auch miteinander in Beziehung zu setzen, das ist an sich ein zweifelhaftes Unternehmen. Trotzdem ist der Weg, der am besten am späten Vormittag, vor und nach den Rushhours, unternommen wird, lohnend.
In der Denkmalsanlage im Treptower Park steht sehr viel Text. Solange ich heute da bin, sehe ich niemanden, der die deutschen oder russischen Sätze läse. Es sind – wie wir wissen – Aussprüche eines Massenmörders. Einige sind zutreffend, schön und gut, andere weniger. Ich weiß es von früher. Ich lese sie heute auch nicht. Ich komme von Westen, vom ausreichenden Parkplatz, durch den römisch oder pariserisch wirkenden Triumphbogen. Anfangs bin ich ganz alleine. Ich denke, dass ich ganz alleine bin. Dann sehe ich den Penner, der auf einer der lehnenlosen Bänke schläft, die im Halbkreis die steinerne Frau umgeben, mit der die eigentliche Denkmalsanlage beginnt. Ein Polizeiwagen fährt ziemlich schnell und so dicht an mir vorüber, dass ich einen Schrecken bekomme. Alsbald braust er in umgekehrter Richtung von Triumphbogen zu Triumphbogen. Plötzlich sind zwei junge Männer da, die unschlüssig ein paar Schritte hierhin, ein paar dorthin gehen, ein bisschen laufen, aber doch wohl nichts miteinander zu tun haben. Sie sind bloß beide unschlüssig, ob sie bleiben sollen. Sie entfernen sich nach Westen.
„Den kenn ich, den ham wir im Kindergarten gebaut. Das Brandenburger Tor ooch!“ ruft einer der Jungen, die jetzt kommen, um ihre Mountainbikes auf der breiten, leicht ansteigenden Plattenallee zu erproben, die von der steinernen Frau auf den fernen Sowjethelden zuläuft, hinter dem sich die Wolken eines frühen Herbstes türmen.
Ich sitze auf der Balustrade über dem Gräberfeld. Ist Gräberfeld das richtige Wort? Würde man es verwenden, wenn man nicht wüsste, dass in der von Steinen eingefassten Erde die Leiber tausender Männer zu Staub zerfallen, die vielleicht auch lieber in ihrer fernen Heimat geblieben wären? Euer Ruhm wird Jahrhunderte überdauern, verheißt eine Inschrift. Diese Jahrhunderte sind nun wohl vorbei. Oder dauern nur noch mühsam. Sechs junge Paare erscheinen zu Füßen der groß knieenden Soldaten. Die jungen Leute lachen, sie haben Urlaub, sie freuen sich ihres Lebens, sie fotografieren sich gegenseitig, die Grabfelder im Rücken. Vor den Stiefeln des linken Soldaten liegt ein Blumenstrauß auf dem steinernen Podest, zu Füßen des rechten steht ein Strauß in regennasser Plastikfolie, die im Sonnenlicht glitzert und funkelt. Daneben liegt der Besen des Gärtners, der sorgfältig den Kies harkt. Der ganz große Soldat im Hintergrund wird eingerüstet; die Arbeiter, die die Gerüstbretter hochreichen, wirken von ferne wie Artisten unter der Zirkuskuppel.
Der Weg nach Köpenick ist mit Wahlplakaten gesäumt. Lothar Bisky sieht aus wie im Wachsfigurenkabinett. Auch die anderen Parteien haben wohl Schönheitsstudios bemüht für die Bilder ihrer Kandidaten. Cool! Geil!, nennt sich die PDS. Das ist eine erfreuliche Änderung des kommunistischen Stils, finde ich. Oder sind die PDS’ler gar keine Kommunisten? Köpenick kündigt sich mit Staus an. Die erste Staubeschreibung von Berlin steht in „Irrungen, Wirrungen“ (glaube ich). Aber schließlich bin ich da. Im Rücken des Blutwochen-Denkmals finde ich einen Parkplatz. Er ist wohl nicht offiziell. Als Platz empfinde ich den Platz des 23. April nicht. Aber als einen schönen Ort. Er vermittelt mir ein dreieckiges Gefühl. Ich bin gerne hier. Von zwei Seiten Stadtlärm, von der dritten Wasser- und Inselruhe.
Ich stehe am Geländer. Die Spatzen kommen ganz dicht heran. Die Schwalben segeln schnittig auf mich zu. Was wäre der Sommer ohne die Flügel der Schwalben? … Zwei braungraue Jungschwäne erwarten etwas von mir. Ihr süßes, zirpendes Rufen ist herzergreifend. Dass diese eleganten Tiere so leise, bescheiden, ich möchte sagen: so durchsichtig sprechen, das rührt mich; inmitten des Menschengelärms hat es etwas Melancholisches. So, denke ich, war vielleicht der Laut, den die Tiere klagend von sich gaben, als Gott den Menschen schuf. Rot, weiß, lila, gelb umgibt die Blumenrabatte die grüne Wiese, vor der das Schild steht, das im grünen Dreieck auf das „Gesetz vom 3.11.1962“ hinweist, als ob wir das alle kennten.
Auf der Wiese liegen viele leere Bierdosen, vor dem Denkmal grüne und weiße Scherben zerschlagener Flaschen. Die Denkmalsumgebung ist nicht sehr gepflegt.
Der Text auf der Rückseite ist unterdessen nicht lesbarer geworden. „Trotz alledem“ ist noch zu lesen, ein Liebknecht-Zitat; hinten der steinerne Fries. Darf man Denkmäler überhaupt nach ästhetischen Gesichtspunkten betrachten? Warum beauftragt man dann aber Künstler? Darf man öffentliche Namen an den eigenen Gefühlen messen? Zu den öffentlichen Wörtern die hierher und nach Treptow gehören, gehört das Wort Befreiung. Es ist ein korrektes Wort. Das habe ich bisher immer gesagt. Das sage ich noch. Aber allmählich weiß ich, dass es für mich persönlich auch ein Wort der Verleugnung ist. Jahrzehntelang habe ich mich darin trainiert, meine kindlichen Gefühle aus dem April 1945 für inkorrekt zu halten. Fast habe ich sie vergessen. Es war gut, dass die Sowjetsoldaten kamen und die US-Army. In Wirklichkeit hatte ich Angst vor ihnen. Ich betrachte lange die Faust. Über die Köpenicker Blutwoche weiß ich gut Bescheid. Manchmal meine ich zu wissen, warum Nachbarn Nachbarn quälen, umbringen. Ich habe nicht den Eindruck, dass die es wissen wollen, die Denkmäler aufstellen und Straßen be- und entnennen. Angesichts der Weltgeschichte überkommt mich „immer mehr das Gefühl des Entsetzens und des Absurden. Keine dieser Empfindungen verändert sich oder schwächt sich ab. Eine dritte Empfindung kommt hinzu: die Empfindung eines riesigen Betrugs, an dem wir alle, handelnd oder duldend, beteiligt sind.“
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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