Neukölln ist die Hauptstadt Berlins. Chinatown in New York, Little Tokyo in Los Angeles: eine Stadt vertritt eine andere. Michel Butor, der französische Schriftsteller, spricht über solche Repräsentanzen in seinem Text: Die Stadt als Text. Ein ganz anderes Phänomen ist die Vertretung einer Stadt durch sich selbst. Hier handelt es sich um Verdichtungen, Verdeutlichungen, Hervorhebungen. In diesem Sinne kann man sagen: Neukölln ist die Hauptstadt Berlins.
Es ist high noon. Die U 7 war proppenvoll. Der Name „Karl Marx“ an den Wänden der nach ihm benannten Station wirkt zwischen den schmal-grünen Kacheln ein bisschen eingeschlossen. „Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus“ heißt es oben erklärend; ob sich viele dabei viel denken können?
Es ist Freitag. Ich freue mich auf das Wochenende und bedaure alle, denen das Schicksal diese harmlose Freude versagt. Ich bin aus dem Untergrund heraus, stehe auf der schmalen Insel, die der U-Bahn-Ein- und Abgang inmitten der Karl-Marx-Straße bildet, mit Ampeln nach beiden Seiten und halbhohen Gittern, dass wir nicht unachtsam sind und uns ein bisschen anlehnen können und gucken. Eine städtischere Stelle gibt es nicht in ganz Berlin. Stadt pur einzuatmen, anzusehen. Ich verweile fast eine Viertelstunde. Ich falle schon auf. Ich lasse die städtische Festigkeit von Neukölln auf mich wirken. Intensivstes Berlin. Steht dem Ku’damm nicht nach. Im Gegenteil. Woolworth stellt Weihnachtsbäume auf sein schmales Vordach. „Weihnachten bei Woolworth“, ich weiß nicht. Kräuter-Kühne, Absatzbar, Gina’s men fashion, chic coiffeur, Berliner, hier gibts eure Würstchen, Uhren Kämpfer, Jeans Express, Kemm’s Curry Treff, und so weiter, multikulturell, international, türkische, arabische, italienische, asiatische Spezialitäten (zum Beispiel in der Erkstraße, durch die ich nachher noch gehen werde). Oben die Kirche, unten Amtsgericht und Rathaus, dazwischen das Leben.
Der Herrnhuter Weg sieht zurückhaltend aus. Ich bewundere Nummer 17 mit dem Säulenheiligen unter dem Regenschirmdächchen. Ich gehe bis zur Richardstraße (denn Neukölln fing als Richardsdorf an, heißt es), die Lebhaftigkeit der Karl-Marx-Straße im Rücken, vor mir niedrige Häuser, die noch etwas Rixdorfisches haben, der schwarze Holzturm der Bethlehemgemeinde, den man zuerst der adretten Kfz-Werkstatt zuordnen möchte, und das weiße Schild: „Zur Brüdergemeine“, Berthelsdorf, Herrenhut, Zinzendorf, wir gehn von Ort zu Ort durch mannigfaltgen Jammer / und kommen in den Friedsport und ruhn in unsrer Kammer; der Gründer der Brüderunität war – ich erinnere mich daran anfangs Jurist.
Den Weg, den ich jetzt parallel zur Karl-Marx- durch die Richard-, Berthelsdorfer-, dann Donau-, Innstraße, Sonnenallee und Erkstraße bis zum Rathaus und Amtsgericht gehe, ist ein Lookers Digest: Neuköllner Baugeschichte in gedrängter Fassung. Zuerst die Passage, Durchgang von der Richardstraße zur Karl-Marx-Straße 131-133, eine bauliche Attraktion aus der Frühzeit dieses [des vorigen] Jahrhunderts, als Neukölln noch Rixdorfer Selbständigkeit hatte gegenüber Berlin. Aber was ist Berlin überhaupt anderes als eine Zusammenstellung von Einzelstätten und -städten, ein Ortsensemble? Der Baumeister der Passage, die jetzt sogar eine Oper beherbergt, war der Rixdorfer Stadtbaurat Reinhold Kiehl, als er die Passage baute, hatte er gerade das Rathaus fertig (1905 bis 1909), und als er die Passage fertig hatte, baute er das sensationelle Stadtbad, den Badetempel, den Badepalast in der Ganghofer- Ecke Innstraße (1912 bis 1914), und dann war bald schon alles vorbei. Deutschland begann zusammenzuschmeißen, was es eben so schön errichtet hatte. Der Stadtbaurat hatte „hohen sozialen Anspruch“, steht in den Büchern, ich weiß nicht, ob man sagen kann: man siehts. Die Elektroindustrie hat die hygienischen Möglichkeiten so schnell und so nachhaltig verändert, dass auch hier die meisten ihre Bäder jetzt zu Hause haben und dafür keine Paläste mehr haben wollen. Auch die elektrischen Waschmaschinen gehören in diesen Zusammenhang. Man liest, dass in den zentralen Waschküchen des Beamten-Wohnungs-Vereins in der Innstraße die ersten elektrischen Waschmaschinen Neuköllns standen: gemeint sind die Wohnanlagen oben an Inn- und Werrastraße, der „Werra-Block“, und hier unten, Innstraße 20-23, der Block mit dem elegant anfragenden gerundeten Eckhaus, gebaut 1925 bis 1927, zu Zeiten der ersten deutschen Republik, die an vielen Stellen der Hauptstadt eindrucksvolle Wohnanlagen hinterlassen hat für Jedermanns. Die Architekten dieser Innstraßen-Blocks waren Paul Mebes und Paul Emmerich, Wohnungsbauer der Spitzenklasse, die sich an vielen Stellen in Berlin hervorgetan haben. Paul Mebes hatte Tischler gelernt, ehe er Architekt wurde. Die Bücher betonen seine handwerkliche Gesinnung. Mein Großvater war Glaser- und Tischlermeister, ein edler Mann; seinetwegen fühle ich mich geehrt, wenn Handwerklichkeit hochgehalten wird. Ich stehe lange an der nachdenklich gestalteten Straßenecke Donau-/Innstraße, die den Bogen aufnimmt, den das Mebes-Haus vorgibt.
Dreißig Jahre meines Lebens war ich Richter in Berlin. Die Justiz-Häuser sehe ich lieber von draußen als von drinnen. Meine jungen Studentinnen und Studenten, die neulich hier waren im Amtsgericht Neukölln, um einen Eindruck von der dritten Gewalt zu gewinnen, waren deprimiert von der unmodernen Düsternis der Gerechtigkeit. Das AG Neukölln, vor dem ich nun verweile, ehe ich wieder hinuntersteige in die U7, ist eines von acht Gerichten, die der Architekt Paul Thoemer zu Anfang des [vorigen] Jahrhunderts in Berlin baute. Das erste war das Gericht in der Littenstraße, 1896 begonnen, das zweite dieses hier in Neukölln, gebaut 1899 bis 1901. Da gab es hier noch grüne Wiesen. Die Gerichtsbarkeit kam wie eine fremde Macht. Als der Bau hier begann, war das Bürgerliche Gesetzbuch, das BGB, gerade fertig, ein Werk der
Unterdrückung, sagte im Reichstag August Bebel, der Vorsitzende der Partei, die die meisten Arbeiter Neuköllns wählten. „Sowohl die politische als die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse.“ Haben wir das hinter uns? Das BGB ist noch da, das Amtsgericht auch. Rechts und links brodelt Neukölln an mir vorüber inmitten der Straße des wissenschaftlichen Sozialisten, „ein Überblick des Erdenlebens … zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale geläutert … was will der Großpapa weiter?“
Neukölln ist die Hauptstadt Berlins.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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