Von Kaulsdorf nach Wuhletal

Das Wort Mittel­al­ter haben dieje­ni­gen erfun­den, die sich gerne einbil­den möch­ten, die Mensch­heit sei unter­des­sen erwach­sen gewor­den. Sie sagen gerne “im Mittel­al­ter” im Sinne von: “damals war’s”. Im Mittel­al­ter gab es auf dem Gebiet des erwach­se­nen Berlin fünf­und­fünf­zig Kirch­dör­fer, vier­und­drei­ßig davon “bewah­ren noch Teile der mittel­al­ter­li­chen Substanz”. Las ich. In der Liste steht auch Kauls­dorf. Wer von West­kreuz im Westen hier­her kommt, weit hinter Ostkreuz im Osten, hat mit der S5 in einer Drei­vier­tel­stunde ganz Berlin durch, wie ein groß gedruck­tes Buch.

Mich umbli­ckend auf dem S‑Bahnhof Kauls­dorf, an diesem vorfrüh­lings­haf­ten Januar-Mitt­woch, nach dem Lokal am Bahn­hof, dessen Freund­lich­keit Manfred Jagusch, der Foto­graf, so gelobt hat, über­kommt mich nichts Mittel­al­ter­li­ches, über­haupt nichts Substan­ti­el­les; “wo ist der Ort?” frage ich mich.
Auf der Nord­seite der Markt ist vor allem ein Halte­platz für Busse; man sieht, dass es für viele von hier aus immer noch weiter­geht. Sogar eine Buch­hand­lung ist da. Buch­hand­lun­gen geben nach meinen Vorur­tei­len allen Orten etwas unmit­tel­al­ter­lich Aufge­klär­tes. Auf der ande­ren Platz­seite, ziem­lich neu, der Brücken­kopf der Landes­bank: Finan­zie­rungs­be­ra­tung, Finan­zie­rung; weil hier viel Platz ist, auf dem man bauen kann? Und braucht trotz­dem — wie gesagt — mit der schnel­len Bahn mitten nach Berlin nur Zeit, die nach Minu­ten rech­net? An dem mittel­gro­ßen Mittel­haus leuch­tet fast über die ganze Hälfte rot-bunte Leucht­schrift: Wohnun­gen, Wohnun­gen, bei Frau Sommer, Frau Sommer.
Auf die Südseite gelangt man durch einen langen Tunnel; er führt direkt vor ein Buden­en­sem­ble, das so aussieht, als ob es hier alles gibt, was man an der Grenze zwischen zwei Kultu­ren benö­tigt; es begeg­nen sich die, die kommen, mit denen, die gehen. Aber die Chan­cen für die Budi­ker werden gerin­ger; weiter unten am Mäde­wal­der Weg in Neu- und Reno­vier­bau­ten gibt es Schle­cker und derar­tige verfes­tigte Geschäfte. Die meis­ten Wilhelm­stra­ßen und ‑plätze in Berlin heißen nach König­kai­sern, die meis­ten sogar nach einem bestimm­ten, hier in Kauls­dorf dage­gen ist tatsäch­lich nur der Männer­name gemeint und eben alle Wilhelms, die sich verdient gemacht haben, in welcher Profes­sion auch immer, und Augusts, durch deren Straße ich gleich spazie­ren werde, Adolfs, Hermanns, nach denen die Planitz­straße bis in die 30er Jahre hieß; da hieß der Wilhelms­müh­len­weg noch Fried­rich- und der Mäde­wal­der noch Wilhelm­straße, ehe die regie­ren­den Deutsch­na­tio­na­lis­ten ihm den Namen des litaui­schen Ortes gaben, den die Litauer ganz anders nennen.

Ich vermeide die Planitz­straße, weil ich mit dem natio­na­len Schrift­stel­ler nichts zu tun haben möchte, nach dem sie heißt: “Der Drago­ner von Grave­lotte”, und — wie gesagt — biege in die August­straße ein.
Wo die über­ra­schend große und selbst­ge­nüg­sam ausse­hende Schule steht, zweigt die Waplit­zer Straße ab, die ein Weg ist, der einen polni­schen Ort benennt, wie die Brodau­er­straße, im Kreis Allen­stein, Woiwod­schaft Olsz­tyn; Stra­ßen­na­men vom Ende der 30er Jahre, kurz vor Welt­kriegs­be­ginn, als die Deut­schen dach­ten, sie könn­ten sich im Osten nehmen, was ande­ren gehörte. Da steht das Ehren­mal für die Sowjet­sol­da­ten an der Brodau­er­straße wohl an der rich­ti­gen Stelle; der Stern, den es hoch­hält, das war ein Stern der Befrei­ung, geschicht­lich betrach­tet: bestimmt, wenn es auch manche anders empfun­den haben 1945, in der Schlacht um Berlin, in der die Deut­schen ihr Unglück und ihre Schuld vertei­dig­ten. Ist das unter­des­sen ein Datum, das auch zum Mittel­al­ter gehört? Die toten russi­schen Solda­ten, die hier mal begra­ben waren, ruhen jetzt im Trep­tower Bombast; ewiger Ruhm, ewiger Ruhm, ewiger Ruhm … auch hier steht es drei­mal in der lang­sam vom Stein gefres­se­nen Schrift; das Denk­mal ist baufäl­lig, die Steine stre­ben ausein­an­der, das Verges­sen brei­tet sich aus.

Die Brodauer Straße fällt nach Westen leicht ab, bevor sie an der sich erneu­ern­den Kita in die ihre Arme ausbrei­tende Dorf­straße über­geht.
Man kommt von oben auf die Jesus­kir­che zu und, wenn man sie erreicht hat, kann man über­rascht sein. Denn plötz­lich erin­nert man sich an solche Buch­sätze, die die fünf­und­fünf­zig Mittel­al­ter­dör­fer und ihre vier­und­drei­ßig erhal­te­nen Rück­stände auffüh­ren. Ein Dorf, um die Kirche, beid­seits der Anger, der sich in ange­nehms­ter Unre­gel­mä­ßig­keit anhebt und zu den Guts- und Angerhäu­sern abfällt; vorbei am roten Haus blickt man ins Wuhle­tal. Die Gedenk­ta­fel aus weißem KPM-Porzel­lan ist an der dunk­len Kirch­hofs­wand fast zu leuch­tend und sagt in ihrer offi­zi­el­len Blau­schrift auch nur die Quint­essenz von dem, was es hier zu wissen gibt über Hein­rich Grüber, später Propst von Berlin.
Der Pastor hatte auch als ein Natio­na­list ange­fan­gen, sogar in der Nazi­par­tei soll er Mitglied gewe­sen sein. Manche sagen: Dieje­ni­gen, die etwas bewirk­ten gegen die Dikta­tur, das muss­ten Poli­ti­ker sein, wer wirk­lich Menschen retten wollte und nicht nur sein eige­nes gutes Gewis­sen, der musste taktie­ren, Tricks verwen­den, der musste sich beispiels­weise als ein Nazi­freund loben lassen, um nicht ein Nazi­op­fer zu werden. Ein solcher prak­tisch wirk­sa­mer Mann war der Pfar­rer Grüber, der hier in der Kauls­dor­fer Kirche von 1933 bis 1945 Pfar­rer war und in Mitte ein Büro hatte, das Juden und ande­ren Verfolg­ten half, der Verfol­gung zu entkom­men. Das ist die Gegen­wart, nun auch schon Vergan­gen­heit, die auf der “mittel­al­ter­li­chen Substanz” aufla­gert, die die Jesus­kir­che umschließt.
Gegen­über die Guts­höfe sind jetzt Inves­ti­ti­ons­plätze für Eigen­tums­woh­nun­gen, aus deren Fens­tern man nehme ich an — viel­fach weiten Blick über das breite Tal der schma­len Wuhle hat, die durch die Wiesen fließt über der schwar­zen Erde, die west­lich zu Marzahn und östlich zu Heller­sorf gehört. Die Dorf­straße endet am Fried­hof, der dicht heran­reicht an den Bahn­hof Wuhle­tal, auf dem die S- und die U‑Bahn neben­ein­an­der halten wie nirgendwo sonst in Berlin. Hinter dem rötlich schim­mern­den Hügel, der die Gegend vom west­li­chen Berlin trennt und ihr eine fast länd­li­che Abge­schlos­sen­heit verleiht, geht die Janu­ar­sonne unter, als ob es schon Mai wäre; von unten her, kann ich mir einbil­den, beleuch­tet sie die weni­gen Wolken, die am West­him­mel nied­rig stehen, so dass sie in rosa und violett leuch­ten, “das darf doch nicht wahr sein!”, flüs­tert die Frau, die eben vom Bahn­hof herun­ter­ge­kom­men ist, den Weg über den Fried­hof nimmt und sich umwen­dend neben mir verweilt, weil sie mich in Himmels­be­wun­de­rung daste­hen sieht; dann sagt sie: “Toll!” und dann, ein biss­chen leiser, damit sie den Eindruck nicht stört und das Licht nicht verschreckt: “Schön.” Es ist schön hier.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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