Ausgesprochen überzeugend

Span­dau wird immer mehr Berlin. Aus der Mitte Berlins — ist denn der Adenau­er­platz nicht die Mitte? — nach Span­dau-Altstadt dauert es 20 U‑Bahn-Minu­ten; von Halen­see — also vom Höhe­punkt des Kudamms — nach Stre­sow sind es knappe 15 S‑Bahn-Minu­ten.
Berlin gibt sich jeder­zeit Mühe, viel klei­ner zu schei­nen, als es ist. Seine Mitte ist schwer bestimm­bar. Liegt der Adenau­er­platz in der Mitte Berlins? Es ist ja eigent­lich nicht mal ein Platz. Und Halen­see auf der Höhe des Kudamms? Dort fängt ja eigent­lich schon Wald und Wiese an. Berlin ist an seinen Rändern ebenso dicht wie in seinen Mitten. Wer die Peri­phe­rie nicht kennt, kennt Berlin nicht. Aber Span­dau liegt gar nicht an der Peri­phe­rie von Berlin. Sondern ist eins seiner mitti­gen Stücke.
So unge­fähr versuchte ich auf der Rück­fahrt zu denken. Aber erst fuhr ich hin. In Stre­sow begrüßt mich — den aus der S5 einzig Ausstei­gen­den — eine Auto­ma­ten­stimme, die dem Vorort-Orts-Namen etwas Lang­ge­zo­gen-Frem­des gibt.
Der Bahn­steig ist blitz­blank und grani­tig-neu. Dem edel reno­vier­ten Bahn­hofs­ge­bäude, das jetzt keine direkte Bahn­hofs­funk­tion mehr hat, kann man anse­hen, dass die Bahn­li­nie alt, tatsäch­lich eine der ältes­ten in ganz Deutsch­land ist: Hambur­ger Bahn, von der in Berlin noch der Hambur­ger Bahn­hof übrig ist, der jetzt sein Alter so museal mit dem Kunst-Neues­ten schmückt. Die Geschichte steht in der Gegen­wart drin, als ob sie schon allein deshalb was wert sei, weil sie eben alt ist.

Der Ausgang — ein Abgang — führt zur Grena­dier­straße. Mili­tär­tech­nisch, lese ich, ist das Wort “Grena­dier” nicht eindeu­tig, es hat mal dies, mal das bedeu­tet, jeden­falls bedeu­tet es: Solda­ten. Die Kaser­nen hat man oben vom Bahn­steig schon südlich sehen können; dahin gehe ich jetzt nicht. Sondern vom Stre­sow­platz, der mehr wie ein Platz heißt, als dass er ein Platz ist, in die Schür­straße. Wer der Namens­ge­ber dieser Straße war, weiß ich schon. Seinen Vorna­men kennt frei­lich kein Auskunfts­buch, oben am goti­sie­ren­den Stra­ßen­schild erfahre ich seinen mili­tä­ri­schen Rang: Oberst­leut­nant. Die Namens­ge­bung war passend, denn die Straße läuft — an eini­gen Fassa­den der Vergan­gen­heit entlang, die teils unbe­ein­flusst verfal­len, teils gerade erneu­ert werden — auf die Bohr­werk­statt der Geschütz­gie­ße­rei zu und die Artil­le­rie­werk­stät­ten. Rechts die in Eingän­gen und Fens­tern vermau­erte Mauer, hinter der nun nur Birken­un­ter­holz wächst, zeigt noch die ursprüng­li­che Größe an. Hier ist der Spazier­gän­ger an einem Plätz­chen, an dem die Geschichte einen ihrer Bedeu­tungs­män­tel aufge­hängt hat. 1813, in Napo­le­ons Endphase vertei­dig­ten Fran­zo­sen Span­dau gegen Russen; in den deut­schen Geschichts­bü­chern wurden die Russen später die Guten (und über­haupt waren diese Russen viel­fach Deut­sche, wenn man anneh­men will, dass es vor 180 Jahren schon Deut­sche gege­ben hätte); die Mörser jeden­falls, mit denen Span­dau beschos­sen wurde, waren deut­sche, preu­ßi­sche, jeden­falls berli­ni­sche; sie stamm­ten aus der König­li­chen Eisen­gie­ße­rei vor dem Orani­en­bur­ger Tor. 1838 wurde dieses Werk, ein Rüstungs­werk also, nach Span­dau verlegt, die Artil­le­rie­werk­stät­ten eben­falls; die Hallen, die man heute noch sieht, sind von 1869 und aus den begin­nen­den 1870er Jahren: die gelben Ziegel­fas­sa­den mit den hohen Rund­bo­gen­ar­ka­den umschlie­ßen eine der ältes­ten Berli­ner Indus­trie­hal­len. Oberst­leut­nant Schür war der erste Komman­dant der Waffen­schmiede.

Zwischen Schür­straße und Ober­mei­er­weg, zum ehema­li­gen Schiff­bau­er­damm, der jetzt eine fried­li­che Ufer­pro­me­nade ist, lag also die viel­leicht mäch­tigste Waffen­schmiede der dama­li­gen euro­päi­schen Welt, aus ihren Kano­nen wurden Dänen erschos­sen, Öster­rei­cher, Fran­zo­sen, euro­päi­sche Mitbür­ger; viel­leicht, spinne ich mir aus, sind die Kano­nen­rohre, mit denen die Sieges­säule noch immer protzt, aus Span­dau. Viel­leicht wäre Berlin nie Reichs­haupt­stadt gewor­den ohne Span­dauer Kano­nen … Halt ein! Die Geschichte ist kein Wunsch­kon­zert. Die Hallen sind vermau­ert. Die Back­stein­mau­ern verschlie­ßen die Fens­ter bedeu­tungs­voll. Aber ein Vorbei kann man ihnen (wie wir wissen) nur in Bezug auf den Ort entneh­men. Die heuti­gen Mord­werk­stät­ten sehen nicht mehr so antik, fast sakral, jeden­falls reprä­sen­ta­tiv aus wie die geschicht­li­chen Vorgän­ger am Stre­sow­park, der dem Anblick heute eine ganz unpäd­ago­gi­sche Idyl­lik aus Gest­rig­keit verleiht. 1995, steht zu lesen auf der sorg­fäl­ti­gen Infor­ma­ti­ons­ta­fel an der Char­lot­ten­brü­cke, hat dieser Park einen Preis der Senats­ver­wal­tung bekom­men: der Pfle­ge­zu­stand wurde als “ausge­spro­chen über­zeu­gend” empfun­den.
Auf beiden Seiten, auch drüben am Linden­ufer, arbei­ten auch heute die Sauber­män­ner, die das kleinste Stück­chen Papier aufpi­cken und wegräu­men. Eine Brücke gibt es hier seit Jahr­hun­der­ten. Mit einem Blick sieht man von ihr hinterm Zusam­men­fluss der Berli­ner Haupt­ströme Havel und Spree den Juli­us­turm und die geschil­derte Waffen­schmiede: das ist also jeden­falls ein Berli­ner Zentral-Geschichts-Ort, an dem die Gedan­ken zu den verschie­dens­ten Asso­zia­tio­nen absau­sen können; ich denke — sozu­sa­gen völlig unab­sicht­lich — an Fritz Schäf­fer. Ein Name aus meiner Jugend. Wer kennt diesen CSU-Poli­ti­ker heute noch? Acht Jahre lang war er unter Adenauer der erste Finanz­mi­nis­ter der BRD: Poli­tik des knap­pen Geldes, zwischen 1952 und 1956 sammelte er über sieben Milli­ar­den Über­schüsse an, haupt­säch­lich um eine neue deut­sche Armee zu finan­zie­ren. Das gebräuch­li­che Schlag­wort für diese Kassen­po­li­tik, die heute wirkt wie aus einem ande­ren Jahr­hun­dert, hieß “Juli­us­turm”, weil in dem Juli­us­turm dort hinten bis 1914 rund 120 Millio­nen Mark in gemünz­tem Gold den Fran­zo­sen 1871 abge­nom­men — als Reichs­kriegs­schatz aufbe­wahrt worden waren, womit sich dann ja auch ein ganzer Welt­krieg machen, wenn auch nicht voll­stän­dig bezah­len ließ. Die Spesen der Geschichte zahlen nicht die, die die Schätze ansam­meln. Denke ich, während ich vom Stab­holz­gar­ten das Linden­ufer entlang­spa­ziere, diesen einma­li­gen Prome­na­den­weg. Die Kammer­straße heißt Kammer­straße, weil sie zur könig­li­chen Salz­kam­mer führte. Hier stand die Span­dauer Synagoge. Aus dem Nach­bar­haus mit der schö­nen grünen Tür, den Erkern und Balko­nen muss man am 9. Novem­ber 1938 einen präch­ti­gen Blick auf das bren­nende Gottes­haus gehabt haben. Ich möchte meinen Satz von eben über die Spesen der Geschichte korri­gie­ren. Wenn es nicht auch kleine Leute gibt, Nach­barn, Menschen wie du und ich, die sich über­re­den lassen, sagen wir mal — die lesen­den Arbei­ter, die das Falsche lesen, dann würden auch keine Häuser, Bücher, Menschen bren­nen. Die Opfer der Geschichte sind allzu­oft auch ihre Mittä­ter.
Ist’s das oder so was Ähnli­ches, was man denken soll vor dem Synago­gen­denk­mal mit dem zersprun­ge­nen Stein und dem Mäuer­chen, das in der Wiese verläuft? Welche Zukunft wollen wir finan­zie­ren mit den im Juli­us­turm unse­rer Geschichte in eindrucks­vol­lem Pfle­ge­zu­stand einge­la­ger­ten Erin­ne­run­gen? Und was sind sie über­haupt wert?
Die Herte­feld­straße verbin­det das Linden­ufer in einem kurzen Wege­stück direkt mit der U‑Bahn-Station Altstadt, 20 Minu­ten zum Adenau­er­platz und eine Station nach der ande­ren zu Mittel­punk­ten der Metro­pole.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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