Berlin ist Weltstadt geworden, geradeso durch das, was es hat, wie durch das, was es nicht hat. Es dauert aber eine Zeitlang, vielleicht ein halbes Stündchen, bis ich so weit bin, meine Seele nach den Metropolengefühlen zu fragen, die ihr mein heutiger Pankow-Spaziergang vermittelt. Mein Arzt hatte mich mit einer schlechten Nachricht überrascht, das Rütteln und Schütteln der U2 ging mir auf den Magen; in der Tram 52, die ich ab Vinetastraße nahm, atmete ein anderer alter Mann hinter mir kurz und schwer, als ob es ihm auch schlecht ginge.
Pankow sah in meinen Augen trüber aus als sonst. Die Schatten der Seele verdüsterten es. Wo man glücklich ist und gesund, da ist es schön. Vor mir sehe ich aber jetzt, und kann es erst kaum glauben, eine junge Frau, frisch und blond, im Band 2 meiner Spazierbücher lesen. Sie lächelt. Da lächele ich natürlich auch. Pankow ist schön.
Das Straßenbahndepot sehe ich gleich, als ich an der Haltestelle Nordend ausgestiegen bin. Es zieht sich weit an der Schillerstraße entlang und kurz ein Stückchen die Blankenfelder Straße hinauf. Dort wird es von einem Haus begrenzt, dessen gelbe Ziegel eine historische Farbe angenommen haben. Es ist das frühere Verwaltungsgebäude des Straßenbahn-Bahnhofs. Gegenüber liegt ein kleiner Park mit Bänken, auf denen an einem Sonnentag wie diesem derjenige gut verweilen kann, der sich nun angesichts der Gegend fragen will, was dieses Nordende der Stadt von ihr erzählt.
Der Betriebsbahnhof der Straßenbahn hier in der Blankenfelder Straße ist der einzige von ursprünglich acht Straßenbahn-Bahnhöfen, mit denen die zwischen 1895 und 1902 elektrifizierte Berliner Straßenbahn ihren modernen Weltstadt-Betrieb aufnahm. Das war ein Werk vom Siemens. Das muss man sich vorsichtig vorstellen, damit man nicht denkt, so wie es ist, so musste es werden und es hätte gar nicht anders gehen können: 1848, als die europäische Jahrhundert-Revolution verspätet in Berlin angekommen war und niedermilitärt wurde, weil die Soldaten nicht wissen wollten, zu welchem Volk sie selbst eigentlich gehörten, hatte Borsig schon mehr als 1000 Arbeiter und damit die größte Fabrik in Berlin; aber Siemens — ein Ex-Artillerieoffizier — hatte in der Schöneberger Straße mit dem Mechanikermeister Halske gerade erst achtzehn.
Dreißig Jahre später war Siemens und Halske bereits ein Weltunternehmen, als die Firma — am 16. Mai 1881 — zwischen dem Bahnhof Groß-Lichterfelde der Anhaltischen Eisenbahn und der Haupt-Kadetten-Anstalt eine elektrische Straßenbahn eröffnete; erster Zug morgens 6.10, letzter abends 10.10, Fahrzeit zehn Minuten; keinerlei andere staatliche Zuschüsse natürlich als das Staunen der Offiziellen.
Damit war die Geschichte der Pferdebahnen zu Ende. 1871 — nach dem deutsch-französischen Krieg — waren die “Große Berliner Pferde-Eisenbahn-Actiengesellschaft” und die “Allgemeine Berliner Omnibus AG (ABOAG)” erst gegründet worden und nun, anderthalb Jahrzehnte darauf, bereits unmodern. So schnell ging das in Berlin, das mit Riesenschritten Weltstadt wurde, nachdem es drei europäische Kriege geschlagen hatte. Freunde hat es sich damit nicht gemacht.
Erst hatte das Straßenbahndepot — gebaut 1901 und 1902, für 190 Wagen! — in der Blankenfelder Straße noch Zinnen und Türmchen. Das ganze Land stellte sich zu dieser Zeit alt-ritterlich dar. Die deutsche Moderne erschien in historischer Verkleidung, als ob sich nichts geändert hätte. Die südliche, knickgiebelige Halle der Anlage zur Schillerstraße hin ist von später: In den 20er Jahren, als auch der nächste Krieg rum war, hat Jean Krämer sie so gebaut, als ob sie schon immer hier gewesen wäre. Bei dieser Gelegenheit sind Zinnen und Ziergiebel vom Jahrhundertanfang weggeschlagen worden.
Nachher werde ich durch die Schillerstraße ostwärts wandern, gleich hinter Krämers östlichem Hallengiebel einbiegen bei dem Schild “Privatstraße. Durchgang nur für Mieter”. Wer sich von diesem Schild abhalten lässt, dem entgeht was, denn der Krämer-Halle gerade gegenüber zieht sich eine Reihe landschaftlich schön platzierter Wohnblocks zwischen Wiesen und Baumensembles hin bis zur Waldemarstraße, eine Wohnanlage, von der man von außen fast nichts ahnt. Wohnungen für die Angestellten, dicht am Arbeitsplatz, die Straßenbahn sollte nicht nur ein Verkehrsmittel sein und ein Arbeitsplatz, sondern auch ein Lebensinhalt. Mit der “Elektrischen” war Berlin an der Spitze der Moderne.
Gut, das kann man sagen, aber es sagt nicht viel. Die Superlative sind zu unindividuell. Was sagt es zum Beispiel, wenn man sich klarmacht, dass Berlin diejenige Weltstadt war — vielleicht ist — mit den meisten Friedhöfen? Das sagt zunächst, dass es in Berlin nicht wie in vergleichbaren Metropolen einen großen Zentralfriedhof oder jedenfalls nur einige wenige, große Friedhofs-Felder gab und gibt.
Ein kleines Stück hinter dem Straßenbahndepot biege ich von der Blankenfelder Straße ab in die grüne Eichenallee zur Kapelle des Himmelfahrts- und Friedenskirch-Kirchhofs: 180.000 Quadratmeter umfasst dieser Friedhof, unzugänglich für die Kirchgemeinde in Mauerzeiten; benachbart der Friedhof der Gethsemane-Gemeinde, 85.000 Quadratmeter, Lindenallee mit Queralleen aus Kastanien und Ahorn, dann — dem Straßenbahn-Hof am nächsten, der Friedhof der Zionsgemeinde, 105.000 Quadratmeter, Lindenallee, Ahornquerallee, Rondell mit Christusfigur.
“Der Kirchhof Berlin-Nordend”, heißt es auf rostigem Schild, “mit den Bereichen Gethsemane, Frieden-Himmelfahrt und Zion wird beim jeweiligen Sonnenuntergang geschlossen”. So spät ist es noch nicht (obwohl ich doch vorhin — wie gesagt — das Gefühl hatte, dass mein eigner Untergang nicht mehr fern ist).
Eine Rasenmähmaschine surrt. “Werte Friedhofsbesucher! Bitte lassen Sie die Baumstämme in den Wasserbecken, damit die durstigen Vögel nicht darin ertrinken.” Die Vögel singen ihre vielfältigen Lieder: so groß aus diesen kleinen Körpern, dass ihnen keine Melancholie widerstehen kann.
Neben der Kapelle, die hier schon drei Jahre länger steht als das Straßenbahn-Depot, umschließen Haine die Grabsteine für Weltkriegsopfer. “Als Opfer des Weltkriegs starb am 31.10.1917 mein heißgeliebtes Männchen und herzensgutes Väterchen … Schlaf wohl, lieb Herz, bis wir uns wiedersehn.”
Die meisten, deren Namen hier erinnernd aufgerufen werden, sind aber umgekommen, ich sage: ermordet worden als Jugendliche, die die Eltern nicht hätten gehen lassen dürfen. Die Kriege sind nicht vorbei. Es hat noch nicht aufgehört, dass Alte Junge sterben lassen. Am Jahrhundertbeginn stand einer, der hier gewesen wäre, an einem Vorpunkt der Moderne, anderthalb Jahrzehnte drauf tief unten beim Ewig-Tödlichen. Dicht nebeneinander die Orte des einen und des anderen. Erst kriegt man gar nicht mit, dass beides Mahnmale sind. Oder wären, wenn die Stadt auf Lernen aus wäre.
Von Nordend bis zur neuen Mitte, Potsdamer Platz, 40 Minuten. Da denke ich längst was ganz anderes.
Foto: Marcel Götze
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
Schade, daß Diether Huhn nicht mehr lebt. Würde gerne mehr von ihm lesen.
Die Spaziergänge werden noch bis zum kommenden Herbst fortgesetzt, dann sind alle 250 Texte hier veröffentlicht.
Danke !