Etwas. Werden. Geworden.

Man wollte etwas werden. Dann dachte man, man sei etwas gewor­den. Dieses prädi­ka­tive Etwas meinte zwar, denke ich heute, ein biss­chen mehr als “irgend­et­was”, aber auf den Inhalt kam es weni­ger an als auf das Quan­tum. Als wir Kammer­ge­richts­räte wurden, ich und ein ande­rer, der nur ein paar Tage jünger war, sagte man uns: wir seien jetzt in Deutsch­land die jüngs­ten Rich­ter dieses Ranges. Wir fühl­ten uns. Wir waren etwas gewor­den. Der andere ist immer mehr gewor­den, schließ­lich ein gut bezahl­ter Staats­pen­sio­när, der sich in Ruhe um seine Besit­zun­gen kümmern kann. Das ist doch etwas.

Als ich gestern aus dem Auto ausstieg, mit dem mich meine Lebens­freun­din in die Witz­le­bens­traße gefah­ren hat, und als ich also das Kammer­ge­richt sah am Witz­le­ben­platz, wunderte ich mich darüber, wie lange ich nicht das Bedürf­nis gehabt hatte, die Gegend wieder­zu­se­hen, in der doch ein ganzes Stück vom Etwas meines Lebens liegen geblie­ben ist.
Das Kammer­ge­richt war eigent­lich gar nicht das Kammer­ge­richt. Jeden­falls ist es nicht mehr das Kammer­ge­richt. Die metal­le­nen Silber­rol­los sind unten, die Gitter verschlos­sen, Sträu­cher über­wu­chern den Präsi­den­ten­bal­kon. 90 Jahre macht das präch­tige Haus jetzt den Barock nach, nun beher­bergt es stil­voll die Leere. Da sitzt mir etwas in der Kehle. Ich muss tief durch­at­men und fange an, meiner Lebens­freun­din schnell Anek­do­ten zu erzäh­len, von denen ich glaube, dass ich sie hier erlebt habe, damit ich das Bild nicht als Symbol nehmen muss für mich selbst und was ich schließ­lich bin, im Augen­blick, in dem die Rollos runter­ge­hen. Es ist schon etwas selt­sam, plötz­lich an einem Ort zu verhar­ren, der für die meis­ten ziem­lich unver­än­dert ist, dem aber gerade das gewisse Etwas fehlt, das ihn für andere zu einem Mittel­punkt machte. Die Verla­ge­rung des Lebens aus der Geogra­fie in die Erin­ne­rung: das ist das Thema. Das Wesen von Städ­ten besteht darin, dass sie voller Erin­ne­rungs- wir können auch gleich sagen: voller Geschichts­texte sind, die fast nur da rich­tig gele­sen werden können, wo sie Gegen­wart waren.
Für den Kriegs­mi­nis­ter Hiob Wilhelm von Witz­le­ben, dem der König 20.000 Taler schenkte, damit er sich den Liet­zen­see kaufen konnte, gilt das nicht. Sein Name, der die Gegend hier benennt, benennt sie nicht anders als sie jeder andere Name bezeich­nete. Zum [vorletz­ten] Jahr­hun­dert­wech­sel baute eine Terrain­ge­sell­schaft den Liet­zen­see­park, samt eini­gen der impo­san­ten Wohn­an­la­gen, die man ums Wasser sieht viel­leicht mit dem Wunsche, darin­nen eine viel­zimm­rige Wohnung zu haben. 1908 bis 1910 entstand das Gerichts­ge­bäude, in Barock, “für solche Bauauf­ga­ben in jener Zeit geläu­fig”, heißt es im Archi­tek­tur­buch, Hein­rich Kayser und Karl von Gross­heim waren die Archi­tek­ten, Star­bau­meis­ter der Jahr­hun­dert­wende: Der “Club von Berlin” in der Jäger­straße 2/3 ist von ihnen, Emil Rathenau und Werner von Siemens waren Mitglie­der, die eindrucks­vol­len Geschäfts­häu­ser in der Rosen­straße, für die sie 32 andere Häuser nieder­rei­ßen muss­ten oder durf­ten: groß­städ­ti­sche Maßstäbe hiel­ten Einzug in Berlin, 1895, und die Hoch­schule der Künste in der Harden­berg­straße, von der auch der übrig geblie­bene Rest immer noch sagt: Kunst ist haupt­säch­lich Verzie­rung, Kunst ist dafür da, damit man das “Wesen der Dinge” nicht so deut­lich sieht, am besten über­haupt nicht. So ist das Gericht ein Barock­schloss.

Eine halbe Stunde lassen wir es jetzt dabei. Wir spazie­ren durch den ebenso wiesi­gen wie gärt­ne­ri­schen Park, blicken zu den Kaffee­häu­sern hinüber, deren weiß-rote Schirme sich in dem grünen Wasser spie­geln. Wir gehen unter der Rosen­per­gola entlang, neben blaublätt­ri­gen Funkien, violet­ter Iris, gelb­li­chem Frau­en­man­tel und blauen Lilien; eine Glyzi­nie wächst in den Ahorn, die Hecken- und die Hund­e­rose blüht; eine Platane beugt sich mit den Ästen zum Wasser nieder, als ob sie eine Weide wäre; an der ahorn­blätt­ri­gen Platane ist — geför­dert vom Hotel Seehof — eine kleine Erklä­rungs­ta­fel: Hör doch mal, auch die Bäume können spre­chen. Ich habe die Anek­do­ten hinter mir, ich muss nichts mehr erzäh­len, ich muss — bilde ich mir in diesem Moment des alltäg­li­chen Lebens­glücks ein — das unbe­stimmte “Etwas”, nach dem es uns hinzog, nicht mehr suchen.
“Die Robben passen ja nun gar nich”, sagt meine Lebens­freun­din. Damit meint sie die zwei Seelö­wen aus rotem Sand­stein, der zwei­tür­mi­gen Wohn­an­lage Liet­zen­see­ufer 10 und dem Hotel Seehof gegen­über, fast da, wo der See sich zu einem Kanal verengt, um unter der Kant­straße hindurch seinen südli­chen Teil zu bilden, der weit hinüber­läuft zu Philo­so­phen- und Juris­ten­stra­ßen. Ach, es ist schön hier, sehr schön, in der Nähe der Seelö­wen setzen wir uns ins Gras und blicken zurück.

Das schöne Barock­schloss, das — meint der Archi­tek­tur­füh­rer — trotz­dem modern wirkt, war das Kriegs­ge­richt. Idyl­lisch liegt es dort hinten, davor zum See hinab die länd­li­che Kaffee­ter­rasse. So sieht eine moderne deut­sche Mord­ma­schine aus. Das Reichs­kriegs­ge­richt war eine Mord­ma­schine. Es stellte hier — bis es wegen der Bomben­an­griffe auf Berlin 1943 nach Torgau verlegt wurde — Unrecht her: Bis zum 7. Februar 1945 1.189 Todes­ur­teile, etwa 40.000 Verur­tei­lun­gen wegen Wehr­kraft­zer­set­zung muss es sich zurech­nen lassen: selbst Äuße­run­gen mangeln­der Sieges­zu­ver­sicht im Kreise der Fami­lie konn­ten den Kopf kosten.
In dem schö­nen Präsi­den­ten­zim­mer mit stei­ner­ner Terrasse zum Liet­zen­see, vor dem jetzt die Sträu­cher des Verges­sens hoch­wach­sen und in dem in den West­ber­li­ner 60er Jahren der Kammer­ge­richts­prä­si­dent von Drenk­mann amtierte, den sein Amt das Leben gekos­tet hat, resi­dierte von 1939 bis 1943 der Admi­ral Max Bastian, Präsi­dent des Reichs­kriegs­ge­richts. Ein Verbre­cher. Wie ist er das gewor­den? Eigent­lich hatte er gar nicht Rich­ter sein wollen. Aber dann traf er den “allein rich­ti­gen Entschluss”, nämlich “wider­spruchs­los dahin zu gehen, wo man mich hinschickte.” Das schrieb er in den 50er Jahren in seinen “Lebens­er­in­ne­run­gen”. Über die Leute des 20. Juli 1944 steht in diesen Nach­kriegs­er­in­ne­run­gen des Gerichts­prä­si­den­ten vom Liet­zen­see: ihre Unter­neh­mung, also der Aufstand gegen Hitler, sei “mit unse­ren ethi­schen Auffas­sun­gen nicht mehr in Einklang zu brin­gen … ein Delikt, für das es in einem gesund empfin­den­den Volk wohl niemals eine anzu­er­ken­nende Erklä­rung, geschweige denn eine Entschul­di­gung gege­ben hat und wohl auch nie geben durfte.”

Ein ganz eige­nes Kapi­tel der bundes­deut­schen Geschichts­er­in­ne­rung schlüge man auf, wenn man Nach­kriegs­äu­ße­run­gen wie diese etwa bezöge auf den Gene­ral­stabs­rich­ter Dr. Karl Sack. Das war ein Mann mit einer glat­ten Juris­ten­kar­riere, ein Mann, der etwas gewor­den war und erst recht etwas wurde, als er 1938 in den Senat für Hoch- und Landes­ver­rats­sa­chen des Reichs­kriegs­ge­richts beru­fen wurde: hier­her in unser nun tatsäch­lich immer moder­ner wirken­des Barock­schloss am Liet­zen­see.
Da ist er ein Todes­rich­ter gewor­den, reihen­weise Todes­ur­teile, drei bis fünf am Tag, beglei­tet von wider­wär­ti­gen Äuße­run­gen: “Der Krieg fordert harte Opfer der besten Männer, rafft volks­bio­lo­gisch wert­volle Menschen hinweg und bringt unsäg­li­ches Leid über sitt­lich und körper­lich hoch­ste­hende Sippen. Es kann daher ein beson­de­rer Schutz minder­wer­ti­ger Menschen nicht in Frage kommen”.

Die Verschwö­rer vom 20. Juli führ­ten Sack auf einer Liste, die ihn als Reichs­jus­tiz­mi­nis­ter vorsah. Am 9. April 1945 ist er zusam­men mit Cana­ris, Oster, Bonhoef­fer in Flos­sen­burg ermor­det worden. In unse­rem Barock­schloss konnte man, als es noch ein Gerichts­ge­bäude war, schließ­lich zwei Gedenk­ta­feln bewun­dern: eine für die Opfer dieser Justiz und eine für die Täter, die in einem “Meis­ter­stück an Verdrän­gung” schließ­lich eben­falls unter die Opfer einge­reiht worden sind. Ich kann mich nicht erin­nern, dass uns das in den enden­den 60er Jahren, als wir etwas werden woll­ten, sehr beschäf­tigt hätte.
Das Gericht ist geschlos­sen. Die Erin­ne­rung wohl auch. Es wird nichts mehr daraus.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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