Ein hoher Turm und kleinere

Nicht weit von dem Büro, in dem ich jetzt diesen Text schreibe, liegt unter den vielen histo­ri­schen Orten, die dort in der Nähe der Reste des Anhal­ter Bahn­hofs von der Gegen­wart zuge­deckt sind, ein beson­ders nach­hal­ti­ger: in der oberen Schö­ne­ber­ger Straße, eine Hinter­hof­stätte. Dort nahmen — wie es heißt — 1847 Werner Siemens und Johann Georg Halske Wohnung und began­nen mit zehn Arbei­tern den Betrieb der “Tele­gra­phen Bau Anstalt”. Ein Vetter von Siemens, ein Rechts­an­walt, gab das Geld (6.000 Taler). Siemens selbst trat zunächst als Firmen­chef nicht hervor, denn er war als preu­ßi­scher Artil­le­rie­of­fi­zier ohne hohen mili­tä­ri­schen Rang Leiter der Tech­nik der Preu­ßi­schen Staats­te­le­gra­phen und blieb es auch noch ein biss­chen. Der erste große Auftrag für Siemens und Halske war ein Staats­auf­trag, noch 1847: die Tele­gra­phen­ver­bin­dung Berlin-Frank­fur­t/­Main. Siemens, der ein Linker war — wenn man den Begriff zeit­ge­mäß auffasst -, dachte an die Natio­nal­ver­samm­lung, die in der Pauls-Kirche tagte und deren Debat­ten und Beschlüsse Signale gaben an das — nur mit Vorsicht kann man sagen: — demo­kra­ti­sche Deutsch­land. Die Tele­gra­phen­lei­tung war recht­zei­tig fertig, um am 28. März 1849 auf schnells­tem Nach­rich­ten­wege nach Berlin zu melden: Die Natio­nal­ver­samm­lung hat die Grün­dung eines Deut­schen Reiches beschlos­sen, der Preu­ßen­kö­nig soll deut­scher Kaiser werden. Siemens trium­phierte tech­nisch, poli­tisch — wie man weiß — nicht.

Die Firmen­ge­schichte der Siemens-Werke umfasst ein wesent­li­che­res Stück deut­scher Geschichte als viele Daten, die die Schul­ge­schichts­bü­cher weiter­ge­ben: russi­sche Toch­ter­ge­sell­schaft 1855 durch Carl Siemens, engli­sche 1858 durch Wilhelm, später Sir William Siemens, 1890 Komman­dit­ge­sell­schaft, 1897 Akti­en­ge­sell­schaft, 1903 Fusion der Stark­strom­ab­tei­lung mit den Nürn­ber­ger Schuk­ert­wer­ken zur Siemens und Schuk­ert AG, 1919 Osram GmbH (mit AEG und Auer), 1879 erste brauch­bare elek­tri­sche Loko­mo­tive, 1880 erster elek­tri­scher Aufzug, 1881 erste elek­tri­sche Stra­ßen­bahn, usw. … usw.: Tech­nik und Wirt­schaft, Wirt­schaft und Poli­tik.

1899 kommt Siemens nach Span­dau; die Nonnen­wie­sen des ehema­li­gen Bene­dik­ti­ne­rin­nen-Klos­ters sind billig zu haben: Siemens­stadt entsteht: Indus­trie­an­la­gen und Wohnun­gen für die Arbei­ter “Heimat” heißt ausdrück­lich ein Teil der Sied­lung: Die Heimat des Siemens-Mannes und seiner Fami­lie ist Siemens; Arbeit und Leben; Treue gegen Treue, hier wohnen ordent­li­che Leute, man kann das bis heute hören; ich hörte es gestern in der Apotheke am U‑Bahnhof. 1905 entsteht das Werner-Werk, an der Straße, die seit 1947 nach diesem Werk heißt. Mit der schnel­len U7 sind wir in elf Minu­ten vom Kurfürs­ten­damm gekom­men, 23 Minu­ten hätten wir vom Bahn­hof Möckern­brü­cke gebraucht, der dem in die Geschichte verschwun­de­nen Hinter­hof ganz nahe liegt, in dem alles begann.

Man sollte sich nicht vorneh­men, alles was Siemens ist (und vor allem: alles was Siemens war) in Span­dau, an einem Sommer­vor­mit­tag zu erfas­sen und geis­tig zu umfas­sen. Schon die Archi­tek­tur­ge­schichte, die hier ein einzi­ger Archi­tekt geschrie­ben hat, beschreibt einen zu weiten Bogen. Dieser Archi­tekt ist Hans Hertlein, Leiter der Siemens-Bauab­tei­lung, fast mit Peter Behrens zu verglei­chen, dem Archi­tek­ten der AEG, dem großen Berli­ner Konkur­renz­un­ter­neh­men von Siemens, der in den Lehr­bü­chern ganze Kapi­tel füllt. Also spazie­ren wir die Ohmstraße südwärts, eine von den neuen Stra­ßen, die das Werner-Werk mit der Nonnen­damm­al­lee und dem Siemens­damm verbin­den und die — vom Quell­weg abge­se­hen — nach großen Physi­kern und Erfin­dern benannt sind; nach dem viel­leicht größ­ten Physi­ker des 19. Jahr­hun­derts, nach Hein­rich Hertz, hieß 28 Jahre lang die Gram­me­straße, bis Hertz, der Jude, 1938 aus dem deut­schen Gedächt­nis gestri­chen wurde. Nichts damit gegen Zénobe Theo­phile Gramme, den Belgier, der den Gleich­strom-Dynamo mit Ring­an­ker erfand. Rechts hinten, im Osten, sehen wir das Bauwerk, dessent­we­gen wir heute hier sind: den Siemen­sturm; fertig 1918, fast 120 Meter hoch, zwölf Höfe sollte er ursprüng­lich über­tür­men, jetzt ist nur noch ein Rest da, Kriegs­zer­stö­run­gen, neue Vorstel­lun­gen, pfle­ge­leich­tere Bauten. Der Turm umschließt den Schorn­stein des inte­grier­ten Heiz­kraft­wer­kes und einen Wasser­be­häl­ter. Aber vor allem ist er eben: ein Turm, etwas Unin­dus­trie­el­les, ein Ausru­fe­zei­chen, er über­trägt die Tradi­tio­nen der kommu­na­len Zentren, der Rathäu­ser, auf die Indus­trie­werke: Wir haben das Sagen. Ebenso 1922 Borsig, 1925 Ullstein, damals Euro­pas größte Drucke­rei. Ob solche Ausrufe wirk­lich Siemens­tra­di­tion sind, frage ich mich, während wir den Wern­erwerk­damm südwärts gehen, um den Lenther Steig zu errei­chen.

In Lenthe bei Hanno­ver war Werner von Siemens 1816 gebo­ren; um seine Wiege stan­den nicht die Musen und keine Fee sagte voraus, was aus ihm werden würde. Auf der alten Latein­schule in Lübeck, wo Jagusch, der Foto­graf, und ich das Abitur gemacht haben, hat er ebenso wenig reüs­siert wie Thomas Mann. Der Lenther Steig endet da, wo ein ande­rer Siemen­sturm steht, frei­lich ein etwas klei­ne­rer, auch von Hans Hertlein gebaut, die evan­ge­li­sche Kirche; ebenso wie ein Stück weiter unten die katho­li­sche, finan­ziert von Siemens. Das Dies­seits und das Jenseits von Siemens für die Siemens­leute. Das schöne Stück Dies­seits, das nun kommt, heißt Wilhelm-von-Siemens-Park, von halb­run­den Plät­zen zwei­gen in alle Himmels­rich­tun­gen Wege ab, mehr Wald als Park, denkt man erst. Die Stra­ßen, die südlich folgen, heißen meist nach Siemens­di­rek­to­ren. So auch die Dihl­mann­straße, über die wir zum Rohr­damm zurück­wan­dern. Hier verlie­fen die Druck­rohre der Berli­ner Wasser­werke, die Trink­was­ser aus dem Tege­ler See zum Wasser­werk Jung­fern­heide brach­ten. An garten­rei­chen Wohn­quar­tie­ren kommen wir vorüber, hinten sehen wir den Siemen­sturm, oder sollen wir ihn jetzt Hans-Hertlein-Turm nennen oder ihm irgend­ei­nen loka­len Namen verlei­hen?

“Nehmt auf mich weiter keine Rück­sicht”, schrieb Werner von Siemens bei seinem Rück­zug aus dem Unter­neh­men an seine Söhne, “setzt Euch nur fest in den Sattel und brecht, was nicht biegen will — denn ohne festes Kommando geht es mal nicht in einem Geschäfts­be­trieb wie dem unsri­gen!” Das Unter­neh­men ist jeden­falls noch da, in der Rang­liste der großen Indus­trie-Unter­neh­men ziem­lich oben. Und auch die Deut­sche Bank ist noch da — aber was heißt hier “noch”? -, bei deren Grün­dung Siemens dabei und deren erster Direk­tor ein Siemens war. Da gibt es wohl Zusam­men­hänge. Aber das ist eine andere Geschichte. An der Span­dauer Siemens­stadt lässt sie sich nicht fest­ma­chen.

Foto: Alexrk2 / CC BY-SA 3.0

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