Für den Berlin-Gänger ist S‑Bahn-Fahren wie Spazierengehen. In Ostkreuz bin ich in die S3 gestiegen.
Ich habe mich auf eine Querbank gesetzt und blicke nach Südwesten. Die Sonne scheint mir ins Gesicht.
Es riecht nach Schmalz. Der junge Mann, der eben fragte: “Wie lange dauert’s noch nach Köpenick?” hat ein Schmalzbrot hervorgeholt. Er macht es sich gemütlich. Im Fenster des Zuges spiegelt sich die Gegenseite, so dass ich gleichzeitig nach Westen und Osten schaue. Die Graffitis am Rande der S‑Bahn sind in ihrer Buchstaben-Haftigkeit längst langweilig geworden. Aber ein‑, zweimal sehe ich Anzeichen für einen neuen Stil.
Der Bahnhof Köpenick hat etwas Erhobenes. Wenn man in guter Stimmung ankommt, hat man das Gefühl, ein bisschen über den Dingen zu stehen. Vor mir geht ein langer junger Mann, der die großen Turnschuh-Füße weit nach außen stellt, er führt uns Geh-Kunst vor. In der Bahnhofshalle und davor ist Budenbetrieb. Die Szene wirkt vorläufig, als läge die Stadt an einer Grenze, wo schnelle Alltags-Geschäfte zu machen sind. Die Dywidag-Container sind unmittelbar an die Straße gerückt, als wolle die Baustelle schon das Endgültige sein. Von Döner-Bude zu Döner-Bude gehe ich die Bahnhofstraße hinunter.
Zum ersten Mal sehe ich das Wort Phlebologie. Eine Ärztin bietet sich dafür an, übersetzt uns das Medizin-Latein aber artig ins Deutsche: Beinleiden. Ein Wort, das den Spaziergänger schreckt. Die Fischgeschäfte zeigen an, dass es eine Stadt am Wasser ist. Ich erwarte die Spree schon. An Otto Firles neuer Sachlichkeit für den evangelischen Generalshof Nr. 1a vorbei gehe ich zum Fluss hinunter. Er hat hier die Freundlichkeit eines Sees.
Die Spree ist überhaupt ein freundliches Gewässer. Sie ängstigt nirgendwo. Im sogenannten Mecklenburgischen Dorf werden Vergnügungsbuden aufgebaut; Las Vegas wird angekündigt und eine Shaker Street. Die Schwäne und Enten werden sich über die Menschen wundern, wenn sie nicht auch längst Berliner sind, die in Mecklenburg, in Nevada und in Köpenick gleichzeitig sein können und keinen Wert auf Stil-Eindeutigkeit legen. Gemütlichkeit muss sein und Remmi-Demmi gleich nebenan.
Ich gehe auf das feierliche Postamt zu, das auch eine Schule sein könnte oder ein Gericht, ein öffentliches Bauwerk aus der Zeit, in der sich der Staat gerne in “Anstalten” organisierte, ein Begriff übrigens, den der große Schinkel bevorzugte; es war eben nicht alles groß an dem großen Mann. Die Kirche neben der Post hat etwas von einer Burg, und die Villa daneben, die das Bezirksamt benutzt, sieht ein bisschen so aus wie die Repräsentativ-Wohnung des Kommerzienrates, dessen Fabrik das Gotteshaus wäre. Ich müsste über die Brücke hinüber, hinunter, unten durch und drüben wieder hinauf, wenn ich an der Bezirksamts-Villa die Löwen genauer betrachten wollte, die am Giebel die Dachluke so stolz halten, als wäre sie ein Ehrenkranz.
Zugehend auf das Haus der Cöpenicker Bank, empfinde ich lebhaft, wie schön der Eingang zur Inselstadt ist. Er bildet einen kleinen Platz, den man als gemütlich empfindet, obwohl er im heftigen Auto-Verkehr liegt. Ich gehe um die Laurentius-Kirche herum. Das Ensemble aus Verfall und Erneuerung sendet ein Zeitzeichen aus, das wir in Berlin bald wohl nicht mehr wahrnehmen werden. Die Banken sind am weitesten mit der Erneuerung. Sanierung sagt man. Darin steckt eine lateinische Wurzel, die “gesund” bedeutet. Das kann man nur hoffen. Die Fensterrahmen der Kirche sind auch neu gestrichen, in einem schönen Grün. Die grüne Kirchentür ist leider zu.
Gegenüber liegt ein gelbliches KÖWOGE-Palais. Die tüchtige Wohnungsbau-Gesellschaft wird es sicher bald leuchtend streichen lassen. Dann wird es noch mehr an Goethes Haus erinnern. Kann man sich Goethe in Köpenick vorstellen? Ich stehe in der Tür zur WP-Gesellschaft Pannell, Kerr, Forster (mit den beiden berühmten Namen in der Firma), im Hof hat Dorothea Jennrich ihre Keramik-Werkstatt, gegenüber “S. Francesca” mit einer eleganten
Note. Die Stadt erhebt sich aus den Niederwerfungen ihrer Geschichte zur Zeitgeistlichkeit einer Gegenwart, die in den Wohlstands-Jahren des Westens dort vorgefertigt worden ist. Passt dieses Kleid uns noch?
Nachdenklich gehe ich am Rathaus vorüber, in das der metallene Hauptmann nicht hineingeht, sondern aus dem er heraus kommt.
Ist unser öffentlicher Dienst selbstironisch geworden? Das wäre schön. Es würde in der Geschichte, die wir uns wie eine Maske vorhalten, ein Augenblinzeln sehen lassen und der Wortpolitik des Medien-Zeitalters ein kleines Fragezeichen beifügen, welche dem Rathaus noch ein Bürgeramt hinzufügt, weil sich die Verwaltung eben nicht von vornherein und selbstverständlich um Bürgerinnen und Bürger kümmert.
Eine junge Blonde springt mit Scherensprung über die Straßenketten, die mich am Schlossvorplatz vor unbedachten Straßen-Überquerungen hindern.
Ich lasse das prächtige Volksbank-Gebäude hinter mir. Das Schloss bleibt für heute links liegen. Am roten Geländer der grünen Langen Brücke schaue ich zur gelben Straßenbahn hinüber, die drüben die Lindenbrücke überquert.
Die Lange Brücke zittert unterm Autoverkehr. Als ob Pioniere sie eben aufgebaut hätten, und nun fiele die Autozeit ein in die Gemütlichkeit, die eben noch hinter den Wassern lag. Der Blick zurück umfasst die Türme von Rathaus, Kirche und Bank: ein symbolisches Ensemble. Erwartungsvoll gehe ich die breite Oberspreestraße hinunter, um Max Tauts Meisterwerk zu sehen: Die Alexander-von-Humboldt-Schule, die er 1928/29 als Dorotheen-Lyzeum gebaut hat. Dass Max Taut ein Meister war, sieht man dem Bau immer noch an. Aber der Nachkriegsputz verunstaltet das Bild. Taut hatte Siegerdorfer Keramikplatten verwendet. Wenigstens den Putz sollte man weißen. Gegenüber bietet neben dem “Goldenen Drachen” der “Grobbild- und Dolby Surround Spezialist” seine Dienste an. Ich weiß nicht, was ich da einkaufen könnte, und wenn ich die Jugendlichen, die aus der Schule kommen, dort hätte hineinströmen sehen, hätte ich mich in dem Gefühl bestätigt gefunden, der Generation anzugehören, die abtreten muss, weil sie nicht mehr weiß, wo’s lang geht. Schüler steigen in ihre eigenen Autos ein und knallen stolz mit den Türen. Ein alter Wartburg springt nicht an. Hinterm Weihnachtsbaum-Stand ist der Eingang zum S‑Bahnhof Spindlersfeld von weitem schwer auszumachen. Er liegt neben einem kleinen Parkstück. Krähen kann man hier sehen von erstaunlichem Selbstbewusstsein.
Auf dem Bahnsteig der S10 stehe ich ein paar Minuten ganz allein. Ich habe den Eindruck, ganz weit draußen zu sein. Hier ist — wie vom Bahnhofsschild abzulesen ist — Spindlersfeld ganz groß und Berlin noch ziemlich klein. Gegenüber schlafen viele orangefarbene Kipplaster der BSR. Es kommen immer mehr Leute. Der Eindruck von draußen verfliegt. Die Sonne sinkt. Die Abende kommen jetzt viel zu früh.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
Berlin hat einfach mehr zu bieten, als die touristisch besonders attraktive Innenstadt mit Brandenburger Tor, Humboldt-Uni und Fernsehturm. Die übrigen Bezirke und Ortsteile der Hauptstadt erzählen ihre eigene Geschichte — in Form von Museen, Gebäuden, Architektur, Kunst und natürlich durch die Menschen selbst. Interessantes über Berlin, seine Großbezirke sowie über Ortslagen wie Müggelheim oder Spindlersfeld findet man auf ortsdienst.de/Berlin/Treptow-Koepenick/ .…. von Ämtern und Behörden, über Sehenswürdigkeiten, Parkanlagen, Kulturelles bis hin zu Veranstaltungen und Events.
Ich genieße Köpenick mit seiner Wasser- und Waldlandschaft jeden Tag meines Urlaubs mit Fahrrad und Paddelboot. Es ist etwas verschlafen und nicht gerade “jugendfreundlich”. In einer halben Stunde S‑Bahn bin ich am Potsdamer Platz, in 10 min. im Wald, in 5 min. in der Altstadt. Leider ist vieles gutes vergangen (die vielen Ausflugskneipen am Wasser, die unendliche Geschichte mit dem Verfall des Müggelturms ) und vieles gefährdet (Baupläne von Ferienhäusern am Müggelsee , Rübezahl). Ich empfehle mal die sehr schönen Fotos von René Frost auf http://www.koepenick.net, (private HP). Wenn Diether Huhn jetzt dort spazieren gehen könnte, hätte er eine Menge Stoff für neue Geschichten.