Von der 3 zur 10

Alexander-von-Humboldt-Schule, Oberspreestraße

Für den Berlin-Gänger ist S‑Bahn-Fahren wie Spazie­ren­ge­hen. In Ostkreuz bin ich in die S3 gestie­gen.
Ich habe mich auf eine Quer­bank gesetzt und blicke nach Südwes­ten. Die Sonne scheint mir ins Gesicht.
Es riecht nach Schmalz. Der junge Mann, der eben fragte: “Wie lange dauert’s noch nach Köpe­nick?” hat ein Schmalz­brot hervor­ge­holt. Er macht es sich gemüt­lich. Im Fens­ter des Zuges spie­gelt sich die Gegen­seite, so dass ich gleich­zei­tig nach Westen und Osten schaue. Die Graf­fi­tis am Rande der S‑Bahn sind in ihrer Buch­sta­ben-Haftig­keit längst lang­wei­lig gewor­den. Aber ein‑, zwei­mal sehe ich Anzei­chen für einen neuen Stil.

Der Bahn­hof Köpe­nick hat etwas Erho­be­nes. Wenn man in guter Stim­mung ankommt, hat man das Gefühl, ein biss­chen über den Dingen zu stehen. Vor mir geht ein langer junger Mann, der die großen Turn­schuh-Füße weit nach außen stellt, er führt uns Geh-Kunst vor. In der Bahn­hofs­halle und davor ist Buden­be­trieb. Die Szene wirkt vorläu­fig, als läge die Stadt an einer Grenze, wo schnelle Alltags-Geschäfte zu machen sind. Die Dywi­dag-Contai­ner sind unmit­tel­bar an die Straße gerückt, als wolle die Baustelle schon das Endgül­tige sein. Von Döner-Bude zu Döner-Bude gehe ich die Bahn­hof­straße hinun­ter.
Zum ersten Mal sehe ich das Wort Phle­bo­lo­gie. Eine Ärztin bietet sich dafür an, über­setzt uns das Medi­zin-Latein aber artig ins Deut­sche: Bein­lei­den. Ein Wort, das den Spazier­gän­ger schreckt. Die Fisch­ge­schäfte zeigen an, dass es eine Stadt am Wasser ist. Ich erwarte die Spree schon. An Otto Firles neuer Sach­lich­keit für den evan­ge­li­schen Gene­rals­hof Nr. 1a vorbei gehe ich zum Fluss hinun­ter. Er hat hier die Freund­lich­keit eines Sees.
Die Spree ist über­haupt ein freund­li­ches Gewäs­ser. Sie ängs­tigt nirgendwo. Im soge­nann­ten Meck­len­bur­gi­schen Dorf werden Vergnü­gungs­bu­den aufge­baut; Las Vegas wird ange­kün­digt und eine Shaker Street. Die Schwäne und Enten werden sich über die Menschen wundern, wenn sie nicht auch längst Berli­ner sind, die in Meck­len­burg, in Nevada und in Köpe­nick gleich­zei­tig sein können und keinen Wert auf Stil-Eindeu­tig­keit legen. Gemüt­lich­keit muss sein und Remmi-Demmi gleich nebenan.
Ich gehe auf das feier­li­che Post­amt zu, das auch eine Schule sein könnte oder ein Gericht, ein öffent­li­ches Bauwerk aus der Zeit, in der sich der Staat gerne in “Anstal­ten” orga­ni­sierte, ein Begriff übri­gens, den der große Schin­kel bevor­zugte; es war eben nicht alles groß an dem großen Mann. Die Kirche neben der Post hat etwas von einer Burg, und die Villa dane­ben, die das Bezirks­amt benutzt, sieht ein biss­chen so aus wie die Reprä­sen­ta­tiv-Wohnung des Kommer­zi­en­ra­tes, dessen Fabrik das Gottes­haus wäre. Ich müsste über die Brücke hinüber, hinun­ter, unten durch und drüben wieder hinauf, wenn ich an der Bezirks­amts-Villa die Löwen genauer betrach­ten wollte, die am Giebel die Dach­luke so stolz halten, als wäre sie ein Ehren­kranz.

Zuge­hend auf das Haus der Cöpe­ni­cker Bank, empfinde ich lebhaft, wie schön der Eingang zur Insel­stadt ist. Er bildet einen klei­nen Platz, den man als gemüt­lich empfin­det, obwohl er im hefti­gen Auto-Verkehr liegt. Ich gehe um die Lauren­tius-Kirche herum. Das Ensem­ble aus Verfall und Erneue­rung sendet ein Zeit­zei­chen aus, das wir in Berlin bald wohl nicht mehr wahr­neh­men werden. Die Banken sind am weites­ten mit der Erneue­rung. Sanie­rung sagt man. Darin steckt eine latei­ni­sche Wurzel, die “gesund” bedeu­tet. Das kann man nur hoffen. Die Fens­ter­rah­men der Kirche sind auch neu gestri­chen, in einem schö­nen Grün. Die grüne Kirchen­tür ist leider zu.
Gegen­über liegt ein gelb­li­ches KÖWOGE-Palais. Die tüch­tige Wohnungs­bau-Gesell­schaft wird es sicher bald leuch­tend strei­chen lassen. Dann wird es noch mehr an Goethes Haus erin­nern. Kann man sich Goethe in Köpe­nick vorstel­len? Ich stehe in der Tür zur WP-Gesell­schaft Pannell, Kerr, Fors­ter (mit den beiden berühm­ten Namen in der Firma), im Hof hat Doro­thea Jenn­rich ihre Kera­mik-Werk­statt, gegen­über “S. Fran­ce­sca” mit einer elegan­ten
Note. Die Stadt erhebt sich aus den Nieder­wer­fun­gen ihrer Geschichte zur Zeit­geist­lich­keit einer Gegen­wart, die in den Wohl­stands-Jahren des Westens dort vorge­fer­tigt worden ist. Passt dieses Kleid uns noch?
Nach­denk­lich gehe ich am Rathaus vorüber, in das der metal­lene Haupt­mann nicht hinein­geht, sondern aus dem er heraus kommt.

Ist unser öffent­li­cher Dienst selbst­iro­nisch gewor­den? Das wäre schön. Es würde in der Geschichte, die wir uns wie eine Maske vorhal­ten, ein Augen­blin­zeln sehen lassen und der Wort­po­li­tik des Medien-Zeit­al­ters ein klei­nes Frage­zei­chen beifü­gen, welche dem Rathaus noch ein Bürger­amt hinzu­fügt, weil sich die Verwal­tung eben nicht von vorn­her­ein und selbst­ver­ständ­lich um Bürge­rin­nen und Bürger kümmert.
Eine junge Blonde springt mit Sche­ren­sprung über die Stra­ßen­ket­ten, die mich am Schloss­vor­platz vor unbe­dach­ten Stra­ßen-Über­que­run­gen hindern.
Ich lasse das präch­tige Volks­bank-Gebäude hinter mir. Das Schloss bleibt für heute links liegen. Am roten Gelän­der der grünen Langen Brücke schaue ich zur gelben Stra­ßen­bahn hinüber, die drüben die Linden­brü­cke über­quert.
Die Lange Brücke zittert unterm Auto­ver­kehr. Als ob Pioniere sie eben aufge­baut hätten, und nun fiele die Auto­zeit ein in die Gemüt­lich­keit, die eben noch hinter den Wassern lag. Der Blick zurück umfasst die Türme von Rathaus, Kirche und Bank: ein symbo­li­sches Ensem­ble. Erwar­tungs­voll gehe ich die breite Ober­spree­straße hinun­ter, um Max Tauts Meis­ter­werk zu sehen: Die Alex­an­der-von-Humboldt-Schule, die er 1928/29 als Doro­theen-Lyzeum gebaut hat. Dass Max Taut ein Meis­ter war, sieht man dem Bau immer noch an. Aber der Nach­kriegs­putz verun­stal­tet das Bild. Taut hatte Sieger­dor­fer Kera­mik­plat­ten verwen­det. Wenigs­tens den Putz sollte man weißen. Gegen­über bietet neben dem “Golde­nen Drachen” der “Grob­bild- und Dolby Surround Spezia­list” seine Dienste an. Ich weiß nicht, was ich da einkau­fen könnte, und wenn ich die Jugend­li­chen, die aus der Schule kommen, dort hätte hinein­strö­men sehen, hätte ich mich in dem Gefühl bestä­tigt gefun­den, der Gene­ra­tion anzu­ge­hö­ren, die abtre­ten muss, weil sie nicht mehr weiß, wo’s lang geht. Schü­ler stei­gen in ihre eige­nen Autos ein und knal­len stolz mit den Türen. Ein alter Wart­burg springt nicht an. Hinterm Weih­nachts­baum-Stand ist der Eingang zum S‑Bahnhof Spind­lers­feld von weitem schwer auszu­ma­chen. Er liegt neben einem klei­nen Park­stück. Krähen kann man hier sehen von erstaun­li­chem Selbst­be­wusst­sein.
Auf dem Bahn­steig der S10 stehe ich ein paar Minu­ten ganz allein. Ich habe den Eindruck, ganz weit drau­ßen zu sein. Hier ist — wie vom Bahn­hofs­schild abzu­le­sen ist — Spind­lers­feld ganz groß und Berlin noch ziem­lich klein. Gegen­über schla­fen viele oran­ge­far­bene Kipp­las­ter der BSR. Es kommen immer mehr Leute. Der Eindruck von drau­ßen verfliegt. Die Sonne sinkt. Die Abende kommen jetzt viel zu früh.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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Tschüss Manuela

Als ich Dich vor 15 Jahren als Fahr­gast im Taxi hatte, hast Du mir Dein Herz ausge­schüt­tet über den Sohn, der nicht so rich­tig wollte wie Du, der kifft und Deiner Meinung nach die “falschen […]

2 Kommentare

  1. Berlin hat einfach mehr zu bieten, als die touris­tisch beson­ders attrak­tive Innen­stadt mit Bran­den­bur­ger Tor, Humboldt-Uni und Fern­seh­turm. Die übri­gen Bezirke und Orts­teile der Haupt­stadt erzäh­len ihre eigene Geschichte — in Form von Museen, Gebäu­den, Archi­tek­tur, Kunst und natür­lich durch die Menschen selbst. Inter­es­san­tes über Berlin, seine Groß­be­zirke sowie über Orts­la­gen wie Müggel­heim oder Spind­lers­feld findet man auf ortsdienst.de/Berlin/Treptow-Koepenick/ .…. von Ämtern und Behör­den, über Sehens­wür­dig­kei­ten, Park­an­la­gen, Kultu­rel­les bis hin zu Veran­stal­tun­gen und Events.

  2. Ich genieße Köpe­nick mit seiner Wasser- und Wald­land­schaft jeden Tag meines Urlaubs mit Fahr­rad und Paddel­boot. Es ist etwas verschla­fen und nicht gerade “jugend­freund­lich”. In einer halben Stunde S‑Bahn bin ich am Pots­da­mer Platz, in 10 min. im Wald, in 5 min. in der Altstadt. Leider ist vieles gutes vergan­gen (die vielen Ausflugs­knei­pen am Wasser, die unend­li­che Geschichte mit dem Verfall des Müggel­turms ) und vieles gefähr­det (Baupläne von Feri­en­häu­sern am Müggel­see , Rübe­zahl). Ich empfehle mal die sehr schö­nen Fotos von René Frost auf http://www.koepenick.net, (private HP). Wenn Diet­her Huhn jetzt dort spazie­ren gehen könnte, hätte er eine Menge Stoff für neue Geschich­ten.

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