Der alte Kreuzberger

Ein Vorteil des Taxi­fah­rens ist, dass man viele unter­schied­li­che Menschen trifft, darun­ter manch­mal sehr inter­es­sante. So war es auch in der vergan­ge­nen Woche. Der beleibte Mann war schon älte­ren Datums, 70 Jahre alt. Er stieg mir vor einem Char­lot­ten­bur­ger Thea­ter ins Auto und wollte zum Orani­en­platz. Wir kamen schnell ins Gespräch. Immer­hin habe ich die ersten 30 Jahre meines Lebens auch in Kreuz­berg verbracht, auch danach immer wieder mal für einige Wochen oder Monate. Und der Orani­en­platz gehörte lange Zeit dazu. Mehrere besetzte Häuser, in denen ich Anfang der 1980er Jahre gewohnt habe, stan­den in unmit­tel­ba­rer Umge­bung.

Der alte Kreuz­ber­ger erzählte, dass er bereits seit 60 Jahren im glei­chen Haus lebt. 1890 hatte sein Groß­va­ter gleich nebenan das alte Café an der Ecke zur Naunyn­straße über­nom­men und es „Kuchen Kaiser“ genannt. Nicht, weil er selbst etwa Kaiser hieß, aber mit seinem Namen Fluss hätte er dort höchs­tens ein Fisch­ge­schäft eröff­nen können. Ende der 1950er Jahre musste das Café schlie­ßen, statt Kuchen wurden dort fortan Küchen verkauft. Seit 1998 ist in den Räumen ein Restau­rant, das den Namen über­nom­men hat.

Der Mann erzählt vom ehema­li­gen Kauf­haus C&A an der Ecke zur östli­chen Orani­en­straße, das derzeit zu einem 4‑Sterne-Hotel ausge­baut wird. Wir spra­chen über die Haus­be­set­zer­be­we­gung und was sie bewegt hat. Über die Archi­tek­tur, darüber dass der nahe Moritz­platz vom Kreis­ver­kehr zur Kreu­zung umge­baut werden soll und auch, dass der Orani­en­platz die glei­che Struk­tur hat wie der Savi­gny­platz (weil er auch vom selben Stadt­pla­ner entwor­fen wurde). Der Orani­en­platz war mal Teil eines Kanals und auch durch den Savi­gny­platz sollte einst einer gebaut werden.

Er erzählte vom Pfar­rer der St. Thomas-Kirche, vom Rauch­haus, zu eini­gem konnte ich eigene Erin­ne­run­gen zusteu­ern. Natür­lich spra­chen wir auch über die Gentri­fi­zie­rung und den Wider­stand dage­gen, über eins­tige Auto­bahn­pläne in Kreuz­berg, über eini­ges, was letzt­lich nicht reali­siert wurde.

Die Fahrt war leider viel zu schnell zu Ende. Aber sie war emotio­nal, lehr­reich und inter­es­sant. Früher gab es ja im Kiez viele Bewoh­ner, die dort seit Jahr­zehn­ten lebten. Auch meine Mutter und Oma gehör­ten dazu, seit 50 Jahren auch die türki­schen Immi­gran­ten. Mitt­ler­weile spre­chen die typi­schen Kreuz­ber­ger Englisch oder Spanisch, soge­nannte Altein­ge­ses­sene gibt es nicht mehr viel. Es macht deshalb Spaß, wenn man mal wieder einen trifft, der schon sein ganzes langes Leben in diesem Kiez wohnt und sich noch immer für die Entwick­lung vor seiner Haus­türe inter­es­siert.

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