Jägerstraße

Aus der Unter­welt der U‑Bahn komme ich in “Stadt­mitte” hervor. Unter der Erde ist die Situa­tion weit verzweigt. Man muss wissen, wo man hin will, leicht kommt man an der falschen Stelle hervor und merkt es erst gar nicht, alles sieht hier aus wie Baustelle, die gerade aufhört, eine zu sein.
Ich bin auf dem Weg in die Jäger­straße, die ich von Anfang bis Ende durch­wan­dern will. Der Anfang ist, entscheide ich, in der Mauer­straße, im Westen. Zu diesem Beginn der Jäger­straße gelange ich durch die Tauben­straße. “Block­flö­ten­vier­tel” soll in DDR-Zeiten die Gegend hier genannt worden sein. Denn die Tauben­straße hieß zwei Jahr­zehnte nach Johan­nes Dieck­mann, dem Mitbe­grün­der der LDPD, und die benach­barte Jäger­straße über 40 Jahre nach Otto Nuschke, dem CDU-Vorsit­zen­den. Dieck­mann war nach der Wende der FDP und Nuschke der CDU pein­lich, das Vermö­gen dieser Schwes­ter­par­teien waren ihnen nicht pein­lich, und Dieck­mann und Nuschke hätten ihnen auch nicht so pein­lich sein brau­chen, dass sie hätten Geschichte ausstrei­chen müssen. Nuschke war immer­hin ein Partei­ge­nosse von Theo­dor Heuss gewe­sen, den seine Stimme für Hitler auch nicht gehin­dert hat, Bundes­prä­si­dent zu werden.
Die Jäger­straße beginnt an einer langen Minis­te­ri­ums­wand, hinter der sich künf­tig das Arbeits­mi­nis­te­rium aufhal­ten wird. Der südli­che Teil dieses massi­gen Komple­xes heißt Kleist-Haus. Eine schwarze Tafel nennt Hein­rich von Kleist, den unglück­li­chen Sprach­künst­ler, der hier zwei Jahre bis zu seinem Tode am Wann­see gewohnt hat. Aber was heißt “hier”? Von der Umwelt, die Kleist hier umge­ben hat, ist nichts übrig. In Bezug auf Kleist ist das nur ein katas­ter­mä­ßi­ger Ort, kein wirk­li­cher.
Man sollte auf die Tafeln schrei­ben, was nahe iegt und noch zu sehen ist. Etwa was im drit­ten und vier­ten Deutsch­land hier war und Wesen trieb, woran die Eltern betei­ligt waren und die Groß­el­tern und manche von denen, die auch jetzt betei­ligt sind.

Das Eckhaus Jäger­straße 1 hat einen schö­nen Erker und eine ange­nehm geweißte Propor­tion. “Neue Justiz Zentral­re­dak­tion” steht dran, hinter dem Brief­kas­ten­schlitz ist kein Brief­kas­ten, also erwar­tet man nicht wirk­lich Briefe. Diese lang­wei­lige juris­ti­sche Zeit­schrift aus DDR-Zeiten hätte nicht in die neue Zeit über­nom­men zu werden brau­chen.
In dem schö­nen, aber jetzt etwas nutz­los ausse­hen­den Haus Nr. 2–3 meldet sich ein Unter­neh­men, das sich “West­öst­li­cher Diwan” nennt, um inhalt­lich den klas­si­schen Namen auf euro­päi­sche Initia­ti­ven einzu­schrän­ken.
Am Türschild macht sich ein Kultur­ring in Berlin namhaft mit einem Senio­ren-Kunst­ser­vice. Kunst zu Leuten brin­gen, die nicht mehr zur Kunst kommen können? Das rührt mein sozi­al­päd­ago­gi­sches Herz. In dem Haus aß ich mit den Damen und Herren des ARD-Gremi­ums, dem ich damals ange­hörte, im Winter 89 auf 90 waren manche Wessis begie­rig, die Luft des Ostens zu schnup­pern. Die Spei­sen wurden sehr lang­sam serviert, wir saßen stun­den­lang, es war sehr heiß, die Fens­ter konn­ten nicht auf- und die Heizung konnte nicht abge­stellt werden. Auf der Straße war es dunkel. Wir hatten das Gefühl, an einem abge­le­ge­nen Ort zu sein. An der Stra­ßen­kreu­zung Jäger- mit der Fried­rich­straße verharre ich lange. Leiser im rötlich schwar­zen DDR-Haus, Lafay­ette und Benet­ton im schwar­zen Glas­pa­last, Escada und die Fried­rich­stadt­Pas­sa­gen, die eigent­lich keine Passa­gen bieten, sondern über­dachte Innen­höfe und offene Geschosse: Es sieht aus wie über­all.

Während ich an Guccis Shop (mit dem gelang­weil­ten Perso­nal) vorüber gehe, wird die Jäger­straße ein biss­chen kalt. Nicht lange, denke ich, den jetzt gehe ich auf den Gendar­men­markt zu. Bei Möhring im Eckhaus nehme ich Platz für einen Milch­kaf­fee und zwei Eier im Glas, die dem Koch nicht gelin­gen. Die Sensa­tion sind die Spat­zen. Jetzt sitzen vier auf meinem Tisch. Einer versucht sogar aus der Milch­kaf­fee-Schale zu trin­ken, fast stol­pert er und fällt. Da lachen die Nach­barn.
Vorbei am Schau­spiel­haus komme ich auf den berühm­ten Platz. Der schönste Platz der Welt, hat Georg Fors­ter gesagt, zu seiner Zeit der Euro­päer, der am meis­ten von der Welt wusste. Heute würde er das nicht sagen. Die beiden Gontard-Kirchen neutra­li­sie­ren die Post­mo­derne nicht. Und ehrlich gesagt: Auch Schin­kels Schau­spiel­haus hat Schwie­rig­kei­ten, sein Post­kar­ten­bild, die post­mo­der­nen Eilig­kei­ten und den DDR-Fertig­teil-Luxus bis zum Verges­sen zu über­tref­fen. Die Bänke sind unbe­quem. Es fehlt Grün. Es fehlen Brun­nen. Es fehlen Menschen. Die Geschichte tut es nicht. Die Geschichts­aus­wahl, die hier erlaubt wird, wirkt leblos. Die Touris­ten blei­ben ratlos. Sie geste­hen sich nicht ein, dass sie hier eine große Nieder­lage der Reprä­sen­ta­ti­ons-Archi­tek­tur der zwei­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts sehen, die Neu-BRD ist da nicht viel besser als die Alt-DDR.

Der Platz unter­bricht die Jäger­straße nur für die Autos. Ich stelle mich zwischen Fran­zö­si­schen Dom und Schau­spiel­haus in die Stra­ßen­mitte, nach Osten und Westen über­bli­cke ich die Straße. Der west­li­che Teil wirkt verschlos­sen, der östli­che Teil ist stra­ßi­ger. Das machen die klei­nen Linden und das lustige Rot-Gelb, das von der belgi­schen Fahne übrig ist, die dort an der Außen­stelle der belgi­schen Botschaft das natio­nale Schwarz ganz fort­ge­wi­ckelt hat. “Zur Poli­zei” sagt das grün­li­che Stra­ßen­schild.
Aber ich will zu Rahel. Jäger­straße 54 ist eins der berühm­tes­ten Häuser der Berli­ner Geis­tes­ge­schichte. Hier betrieb Rahel Levin ihren ersten Salon. Manche kamen, die sie hinter­her nicht mehr kann­ten, auch manche, die sie gar nicht leiden konn­ten, aber wuss­ten, dass sie auch ihrer Dach­wohnng nicht fort­ge­hen würden, ohne etwas gelernt zu haben. Alex­an­der von Humboldt war unter ihnen, aus Rahels Fens­tern konnte er das Haus betrach­ten, in dem er gebo­ren war. Jetzt: Berlin-Bran­den­bur­gi­sche Akade­mie der Wissen­schaf­ten. Aber das Haus ist nicht mehr das, auf das das Gedenk­schild verweist.
Die Jäger­straße hat nichts mehr mit Alex­an­der von Humboldt zu tun. Sie wird die Straße von Sat 1 werden. Das ganze Stra­ßen­kar­ree wird von dem zeit­geist­li­chen Medien-Unter­neh­men aufs beste reno­viert und bebaut. Sat 1 wird ein Schmuck­stück der Haupt­stadt sein, nein der Stadt; der Haupt­stadt schickt der TV-Sender dasselbe wie dem ganzen Deutsch­land: Medien-fast-food, Whop­per-Fern­se­hen, warum nicht, im Fern­se­hen ist mehr Jahr­hun­dert als in der Akade­mie.

Vor mir sehe ich nun den grauen Klotz, der das Außen­mi­nis­te­rium beher­ber­gen wird, vorher ZK der SED, Finanz­mi­nis­te­rium, Reichs­bank. Abge­sperrt jetzt als werdende Baustelle wie später sicher­lich als gewor­de­nes Außen­mi­nis­te­rium. Die halb­ho­hen Versor­gungs­rohre, die sich über Stra­ßen und Plätze span­nen, sind hier das Charak­te­ris­ti­sche, an den Beton­fü­ßen wird rot ange­kün­digt: Harald Juhnke als Haupt­mann von Köpe­nick, wieder ab 2. August. “Wenn er nicht besof­fen ist”, sagt der Penner, der auf der Bank sitzt, Bier aus der Dose trinkt und sieht, dass ich das Plakat lese. Ich weiß keine Antwort, zucke die Achsel. Archi­me­des umge­zo­gen, heißt es am Eckhaus des Haus­vog­tei­plat­zes, der die Vergan­gen­heit schon verlas­sen und die Gegen­wart noch nicht erreicht hat.
Aus der Unter­welt der U‑Bahn steigt schwere warme Luft herauf. Ich steige hinab.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Zufallstreffer

Kein Paradies

Der Beginn

Die roten Vorhänge vor den Fens­tern.Sie halten die Herbst­sonne ab.Dabei ist sie längst nicht mehr heiß.Das Zimmer ist vertraut.Unauf­ge­räumt. Wie immer.Die Krümel vom Früh­stück auf dem Tisch.Die gewa­sche­nen Hosen über der Stuhl­lehne.Von den Fotos schauen […]

Internet

Sorgenkind Wikipedia

Wer regel­mä­ßig das Inter­net nutzt, zudem zur Recher­che von Infor­ma­tio­nen, kommt an Wiki­pe­dia nicht vorbei. Dieses Projekt ist eine Online-Enzy­k­lo­­pä­­die, die frei verfüg­bar ist und an der jeder mitar­bei­ten kann. Durch diese Offen­heit wurde sie […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*