Von zu Hause in die Geschichte

In den Zelten 5

Ihre Adresse war: In den Zelten 5. Bekannt von Brief­marke und Geld­schein: Bettina von Arnim. Gebo­rene Bren­tano. Aus Frank­furt, wie Goethe. Ich fahre an mit dem stadt­be­rühm­ten Bus Nummer 100, eine Touris­ten­at­trak­tion, für Billig­geld zeigt er viel von Berlin.
John-Foster-Dulles-Allee steige ich aus; die nach dem verges­se­nen US-Außen­mi­nis­ter genannte Park­straße führt an der seiner­zeit von den Ameri­ka­nern gestif­te­ten Kongress­halle vorbei, die die Berli­ner “Schwan­gere Auster” nann­ten, bis sie zusam­men­fiel. Von diesem Zusam­men­bruch hat sich der Bau eigent­lich nie erholt; der zärt­li­che Spitz­name wird heute nur noch aus der Vergan­gen­heit zitiert; der Bau hat uns enttäuscht, er hat Miss­trauen in die moderne Inge­nieur­kunst erweckt.
Heute heißt das Gebäude “Haus der Kultu­ren der Welt”; aber rich­tig läuft da wohl nichts. Zur Zeit gibt es eine Ausstel­lung zeit­ge­nös­si­scher chine­si­scher Male­rei; auf dem Plakat ist China mit einem Ausru­fe­zei­chen geschrie­ben, das — wahr­schein­lich nichts als Grafik — genau durch das H führt.

An diesem sonnig kalten Okto­ber-Nach­mit­tag bin ich ganz allein auf dem Ufer­weg, der auf dieses Kultur­haus zu‑, an der Damp­fer-Anle­ge­stelle der Reede­rei Riedel vorbei­führt.
Eine metall-rostige Gedenk­stele am Ufer erin­nert an Magnus Hirsch­feld und sein berühm­tes Insti­tut für Sexu­al­for­schung, ehemals In den Zelten Nr. 9, da wo auch kein Rest eines Hauses mehr zu erken­nen ist, eine Stele gegen die Vorur­teile, unter­ge­gan­gen in bluti­gen Vorur­tei­len, zerstört von “den Natio­nal­so­zia­lis­ten”, heißt es im Gedenk­text, wenn es nun hieße: “1933 von den Deut­schen zerstört”, wäre das falsch?
Ebenso ist kein Stein mehr da von dem Haus, in dem hier die berühmte roman­ti­sche Frau gewohnt hat, die — wie gesagt — aus Frank­furt stammte, “also im Juden­hass erzo­gen war”.
Die ganze Straße ist weg. Weder das Bettina-von-Arnim-Ufer noch In den Zelten gibt es mehr: Baustelle. Hier entsteht — einge­zäunt — das Bundes­kanz­ler­amt. Geschäf­tig fahren die gelben Bagger auf und ab. Firma Fröh­lich, aus Hessen, Kassel, planiert die Gegend, gräbt die Gschichte um, verwan­delt die Öffent­lich­keit einer Ufer­straße in ein geschlos­se­nes Staats­areal; junge Poli­zis­ten mit Panzer­käp­pis patrouil­lie­ren, beob­ach­ten mich skep­tisch, weil ich beob­achte und schreibe.

Ich will in der Wirk­lich­keit den Weg gehen, den Bettina hätte gehen müssen, wenn sie von ihrer letz­ten Berli­ner Wohnung zu der Stelle hätte gelan­gen wollen, an der ihr bestes und wirk­sams­tes Buch spielt; nach dem Tode ihres roman­ti­schen Mannes entstan­den, als sei sie nun befreit zu denken, was man denken musste: “Dieses Buch gehört dem König”, 1843: eine Ankla­ge­schrift. Aus zwei­ter Hand zwar die Tatsa­chen, aber später fügten andere Erst­hän­di­ges dazu. Über das Wohnungs­elend des Voigt­lan­des. Das war das Wohn­quar­tier vor dem Hambur­ger Tor. Die Wülck­nitz­schen Fami­li­en­häu­ser, Torstraße/Ecke Garten­straße heute: das ist der Platz. Nach dem Kammer­her­ren von Wülck­nitz hieß dieses Elends­quar­tier: der Adlige folgte klas­si­schem Vorbild: Cicero, ein wuche­ri­scher Vermie­ter, trotz­dem ein Heros der euro­päi­schen Geis­tes­ge­schichte.
Dahin wandere ich nun. Es ist ein Weg von Tier­gar­ten nach Mitte, ein aufre­gen­der Haupt­stadt-Weg, auf dem man die Gegen­wart mit der Vergan­gen­heit verglei­chen kann, wenn man sich nur ein biss­chen auskennt, z.B. ein, zwei Kapi­tel in Johann Geists klas­si­schem Buch gele­sen hat: Das Berli­ner Miets­haus 1740–1862. In diesem Buch — span­nen­der als mancher Roman — kann man die Geschichte dieses “Troja­ni­schen Pfer­des vor den Toren Berlins” lesen, die Geschichte der Gegend, das des paupe­ri­sier­ten Voigt­lan­des. “In dem Fall spie­geln sich die allge­mei­nen Verhält­nisse, in dem Ort die Entwick­lung der Stadt und in der Trans­for­ma­tion der Gegend der Über­gang von feuda­ler zu kapi­ta­lis­ti­scher Produk­ti­ons­weise in Preu­ßen”. Dann hätte man die Geschichte bis ans Ende des [vor]vorigen Jahr­hun­derts beschrie­ben und eine neue Geschichte höbe an, die die Gebäude hervor­ge­bracht hat, deren abblät­ternde Fassa­den heute in post­mo­derne Reno­vat­u­ren über­ge­hen.

Das Buch mit dem Titel “Dieses Buch gehört dem König” hat Bettina von Arnim 1843 geschrie­ben; ist ein merk­wür­di­ges Werk, das beste an ihm wie gesagt ist eine Doku­men­ta­tion über die Lebens­ver­hält­nisse der Arbei­ter­fa­mi­lien hier an dieser Stelle, an der ich jetzt stehe. Im Übri­gen hat das Werk sozi­al­phi­lo­so­phi­schen Inhalt. Es besteht aus fikti­ven Dialo­gen, die Goethes Mutter, die Frau Rat, mit einem Pfar­rer, mit einem Bürger­meis­ter, Auto­ri­täts­per­so­nen führt; nach­ge­mach­ter Sokra­tes, nach­ge­mach­ter Platon, aber nicht auf die Form, auf den Inhalt kommt es an.
Neulich habe ich ein paar Sätze E.T.A. Hoff­mann leise für mich vorge­le­sen am Grabe des großen Schrift­stel­lers und am Gendar­men­markt, auf den er ster­bend herab­sah. Auch heute habe ich einen andert­halb Jahr­hun­derte alten Satz neben mir, um ihn an Stel­len zu brin­gen, an denen er sich schon einmal ereig­net hat. Also habe ich da, wo Bettina wohnte und wo nun das Bundes­kanz­ler­amt entsteht vor einem Draht­zaun und einer Trink­was­ser­stelle, Icme Suju, wo die Krähen Abfall auf der Wiese sammel­ten und in die Bäume trugen, hier also, wo er hätte geschrie­ben sein können, und in der Garten­straße hinter dem lauten grünen Zement­lie­fe­ran­ten aus Heidel­berg habe ich diesen Satz vorge­le­sen, frei­lich so, dass es niemand hören konnte außer mir selbst: “Die Vered­lung des Menschen geht oft an ihrer Sitten­ver­bes­se­rung zu Grunde, Dazu gehört die Sünden­taxe. Der wägende Rich­ter, den sie auf den Wolken­thron sich denken, steht auf dem Markt und lässt den schar­fen Schliff seines Rich­ter­beils im Sonnen­licht blit­zen. Der Staat hat seine reli­giös-mora­li­schen Anla­gen, seine Abgren­zung erlaub­ter Begriffe, die Entwick­lung unse­rer Seelen­kräfte auf der Tenne, er drischt wech­sel­weis drauf los, und gewin­net eine unreine Saat der Moral, der Gott­heits­lehre und verpfusch­ter Gesetze. Der Staat säet sie aus und ist allein verant­wort­lich für die Verbre­chen, die daraus erwach­sen. Das Beil in der eiser­nen Faust auf dem Markt­platz zückt gegen ihn die Schneide, Dieses Beil ist die öffent­li­che Meinung, die mündig gewor­den ist und ihn verdammt.”

Ich bin ein Stück in die Garten­straße hinein­ge­gan­gen. Das Haus Nummer 114 entsteht neu, dane­ben ein Neubau ist schon fertig, reno­vierte Fassa­den folgen. Die erbun­tete Fassade von Nummer 110 in rötli­chem Gelb wirkt fremd vor dem grauen Haus­ku­bus, dessen schmuck­lose Nord­seite die Frei­flä­che südlich begrenzt, die der Vorhof von Nummer 109 lässt. Dort kann man einen Blick in den schma­len Enghof von Nummer 108 werfen: Als ob das tatsäch­lich noch ein Stück aus dem vergan­ge­nen Elend wäre, das nun mit Kraft in eine neue Zeit geho­ben wird.
Die Vergan­gen­heit kann hier über die Straße gehen, gegen­über das berühmte Stadt­bad Mitte, von Tessenow, dem Lehrer Albert Speers, Ende der 20er Jahre gebaut: hier kann die Vergan­gen­heit sich waschen, um sich der neuen Gegen­wart zu zeigen, in der wir schnell alles verges­sen, was war. Die Geschichte hat keine Zukunft. unser Land besteht wie die Welt nur noch aus TV und Gegen­wart.

“Was hat eigent­lich Günter Grass über die Waffen­lie­fe­run­gen in die Türkei und über die Abschie­be­ge­fäng­nisse gesagt?” fragt mich der philo­so­phi­sche Mehdi Hojat, der mich hier mit dem Auto abholt und der denkt, dass er etwas versäumt hat, weil er eine Woche in der sanf­ten Luft von Mallorca verbracht hat.
Ich lese ihm auch den Satz von Bettina vor, den ich vorhin der Beton­misch­ma­schine vorge­le­sen habe und verschweige ihm, dass Bettina von Arnim hier im Armen­quar­tier in Wirk­lich­keit niemals war. Begra­ben ist sie in Wiepers­dorf. In Berlin werden die Namen gelöscht, die an sie erin­nern.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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