Ankunft in Köpenick nach 50 Jahren

Mandrellaplatz

Wenn ich “Köpe­nick” hörte, dachte ich nicht an den Haupt­mann. Sondern an die Olym­piade. 1936 besuch­ten meine Eltern Berlin, um den Sport­le­rin­nen und Sport­lern zuzu­se­hen. Ein Kollege hatte eine Tante in Köpe­nick, die gut gestellt war, da konn­ten sie kosten­los wohnen. Das war das Köpe­nick meiner Kind­heit, die nun mehr als ein halbes Jahr­hun­dert zurück­liegt. Seit 35 Jahren lebe ich in Berlin. Heute bin ich zum ersten Mal in dem wirk­li­chen Köpe­nick gewe­sen.
Es ist ein sonni­ger Sams­tag im Herbst. Mit “Schie­nen­er­satz­ver­kehr” und “S‑Bahn-Pendel­ver­kehr” brau­che ich von Lich­ter­felde mehr als 2 Stun­den. Ich bin sechs Mal umge­stie­gen. Die Gleise werden erneu­ert. Die Stadt erhebt sich aus ihren Zerstö­run­gen. Ich habe mir diesen ersten Spazier­gang durch Köpe­nick gut über­legt, sogar die Köpe­ni­cker Wahl-Ergeb­nisse aus den 30er Jahren studiert, um mir die Köpe­ni­cker Blut­wo­che zu erklä­ren. Die Nazis beka­men in Köpe­nick bessere Wahl­er­geb­nisse als im Berli­ner Durch­schnitt, aber was erklärt das? Als meine Eltern 1936 eine Woche in Köpe­nick wohn­ten, um in West­end der “Jugend der Welt” zuzu­se­hen, war es schon mehr als drei Jahre her, dass die Welt zuge­se­hen hatte, wie Hitlers Sturm­ab­tei­lun­gen den Reichs­kanz­ler Hitler mit Folter und Mord feier­ten.

Durch die Borg­mann­straße gehe ich zum Amts­ge­richt. Den Mandrel­la­platz habe ich mir anders vorge­stellt. Er ist weni­ger Platz, als ich erwar­tete. Das Amts­ge­richt hatte ich mir rot gedacht. Aber es ist grau.
Ich setze mich vor dem “Video Corner” auf eine Bank. “Perso­nen unter 18 Jahren” ist hier der Eintritt verbo­ten, damit die Perso­nen über 18 Jahren denken, dass man ihnen hier Geheim­nisse zu bieten hätte. Für mich liegen die Geheim­nisse im Offen­ba­ren auf der ande­ren Stra­ßen­seite. In Efeu und Fried­hofs­grün: ein klei­ner Platz im Platz: der Gedenk­ort für Rudolf Mandrella; er war Amts­rich­ter hier und unterm stren­gen Schei­tel 43 Jahre alt, als man ihn (aber wer hat es wirk­lich getan?) im Zucht­haus Bran­den­burg ermor­dete.
“Wider­stands­kämp­fer” nennt man solche Leute, “katho­lisch” heißt es hier noch, aber was wissen wir damit von dem Tapfe­ren? Im Brock­haus steht er nicht, auch Werner Seelen­bin­der, nach dem die große Straße hier heißt, der Ring­kämp­fer und Anti­fa­schist, steht nicht im Brock­haus. Die meis­ten, die dort im Arti­kel “Wider­stand” namhaft gemacht werden, haben erst mal mitge­macht mit Hitler.

Die Gedenk­stätte “Köpe­ni­cker Blut­wo­che” in den Verlie­ßen hinter dem Amts­ge­richt macht am Sonn­abend erst um 14 Uhr auf. Ich betrachte die Blumen­kü­bel aus Beton, den Fahr­rad­stän­der unter dem gelb­li­chen Plas­tik­dach, er sieht so aus, als fände hier auch schu­li­sches Zwangs­ge­den­ken statt. Die Erin­ne­rung ist nur noch zeit­weise geöff­net; sie hält sich nicht auf Dauer. Schließ­lich ist alles verges­sen. Wenn es nicht Sonn­abend wäre, könnte ich ins Gericht hinein­ge­hen und einige meiner frühe­ren Studen­tin­nen besu­chen, die hier arbei­ten. “Wie geht’s?” — “Ach, ja”. Ich weiß selbst, dass es einem nie ganz gut geht, wenn man in einem Gericht arbei­tet. Das Amts­ge­richt wird vergrö­ßert. Die Baufirma nennt sich “lebens­wert bauen” — gegen­über einem Gericht empfinde ich das als Ironie.
Die Bahn­hof­straße abwärts, am “Mode­haus Köpe­nick” vorbei, das jetzt nur noch eine Über­schrift für Drospa ist, gehe ich zu der Örtlich­keit, die in meinen Büchern “Platz des 23. April” heißt; ein Schild mit diesem Namen finde ich nicht; viel­leicht ist der Name gestri­chen, “Befrei­ung durch die Rote Armee” — das sehen die Offi­zi­el­len heute viel­leicht anders.
Der Platz ist ein Garten, ein klei­ner Park, am Eingangs­weg nennt sich das Grün­flä­chen­amt in komi­scher Behörd­lich­keit; der Herbst ist bunt, die Bless­hüh­ner sind hung­rig, sie schwim­men aufge­regt piep­send auf mich zu und machen sich falsche Hoff­nun­gen.

Ich will mir das Denk­mal anse­hen, das hier für die Opfer der Blut­wo­che steht. Oder ist die brutale Beton­faust nicht eher ein Denk­mal für die Täter?
Die Inschrift auf der Rück­seite ist unter Spray­zeich­nun­gen und Zeit­ver­wüs­tun­gen nicht mehr lesbar: “Errei­chen wird … leben wird … Unsere … Trotz alle­dem”.
Das Relief hinter der gewalt­tä­ti­gen Stele verstehe ich nicht; die nach­les­ba­ren Deutun­gen sind unter­schied­lich:
“Berufe” sagen die einen, “sozia­lis­ti­sches Leben” andere. Die Erin­ne­rung versinkt, entglei­tet uns, das Leben besteht aus Verdrän­gun­gen.
Die Baum­gar­ten­in­sel sieht schön aus. Wie kommt man hinüber? Ich hatte bis zum Belle­vue-Park gehen wollen, um an Lepel und also an Fontane zu denken. Aber ich bin müde. Das Grau und der Verfall, den die Zeit über die “Neue Sach­lich­keit” von Otto Firles kubi­schem Gemein­de­haus Am Gene­rals­hof Nr. 1 a gelegt hat, passt zu meiner herbst­li­chen Müdig­keit.
Ich will mir noch das Haus Seelen­bin­der­straße Nr. 44 anse­hen. Hier soll Elisa­beth Lang­gäs­ser gewohnt haben, als sie in Köpe­nick Lehre­rin der Sozi­al­päd­ago­gik war.
Die Erdge­schoss-Wohnung ist in ein Eiscafe verwan­delt. Elisa­beth Lang­gäs­ser ist an ihrem Wider­stand gegen die Nazis nicht umge­kom­men. Töch­ter hat sie herge­ben müssen. Sie steht im Lexi­kon. Das “Unaus­lösch­li­che Siegel” von 1946 wurde noch 1953 von unse­rem Deutsch­leh­rer für moderne Lite­ra­tur gehal­ten. Ich glaube, jetzt ist sie auch verges­sen und ruht bei den Wiecherts und Bergen­gruens.
Waren die SA-Männer, die 1933 gegen­über im Amts­ge­richts­hof Mitbür­ger totge­schla­gen haben, viel­leicht diesel­ben, die am Stra­ßen­rand stan­den, als meine Eltem 1936 von Köpe­nick nach West­end fuhren, um Jesse Owens siegen zu sehen?
Auf dem Bahn­hof skan­die­ren betrun­kene Sport­fans: “Schlagt sie tot, die Türken­schweine”. In kurzem Abstand beglei­tet sie eine Gruppe junger Poli­zis­ten in Kampf­an­zü­gen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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