Müsste man nicht eigentlich Grün-Au sagen? Grüne Aue, grüne Wiese, am grünen Strand der Dahme, grüne Gärten am blauen Langen See?
Aber jeder Berliner sagt Grü-Nau. Was ist Nau, was Grü? Das ist ein Beweis dafür, dass das Gesetz der Sprache nicht Sinn und Bedeutung ist, sondern Melodie und Rhythmus.
Ist man vom hoch gelegenen Bahnsteig des S-Bahnhofes herunter, in dem unteren Durchgang, in dem sich die Penner friedlich zwischen den Telefonboxen anordnen, geht es links nach Treptow, rechts nach Köpenick: Grünau, zuerst über einen Wochenmarkt.
Während ich durch das dann folgende Wäldchen auf die Büxensteinallee zugehe, bin ich im idyllischen Sommertag ganz alleine, kein Mensch, in der Büxensteinallee ist das gleich ganz anders, eine Straße der Renovierungen, Neubauten, Baustellen, Grünau steht auf, nein: Grünau verwandelt sich. Man sieht das oben, wo die Büxensteinallee in die Regattastraße übergeht: Die Stelle ist wieder eine solche „Geschichtszwiebel“, wie sie in Berlin vielerorten wachsen: Blatt für Blatt, Schicht für Schicht kann man Geschichte und Geschichten abschälen; zuerst die Straßennamen: Georg Büxenstein, Kommerzienrat, Buchdruckerei, war einer von Deutschlands ersten Rudersportfans, 1881 Gründung des Berliner Regatta-Vereins, seit 1881 Regatten auf dem Langen See, seit den 20er Jahren hat die Regattastraße ihren Namen, das städtische Arrangement erinnert also an eine Anfangszeit des Sports in Deutschland, in der er eine unvorstellbar andere soziale Erscheinung war als heute; da hatte er nichts Massenhaftes, eher was Exklusives, Vornehmes und zugleich abweichend Besonderes.
Unter den Geschichten meines Vaters, mit denen ich aufgewachsen bin, handelte eine von dem Schulgefängnis, dem Karzer, in das er verwiesen wurde, weil er in kurzen Hosen an einem Sprungwettbewerb teilgenommen hatte, vor WK I, „Das ist vielleicht was für Arbeiter, nicht für Gymnasiasten“, sagte der Direktir in ahnungsloser Verkennung der Ursprünge zu meinem Vater, der der Sohn eines Glasermeisters war. Beim Rudern ging es von Anfang an vornehmer zu. Man sieht es den Bootshäusern aus der Zeit, die hier weiter oben stehen, noch heute an: jetzt wirken sie wie Anzüge, die zu altmodisch, zu prächtig und zu weit sind. Für die Massen bestand das soziale Vergnügen ein historisches Stückchen später darin: am Wasser zu sitzen und Bier zu trinken. Biergarten Grünau, geschlossen jetzt die 200 Quadratmeter-Terrasse, die Festsäle leer, hinter bleichenden Gardinen Verfall, „Europa“ gegenüber auch zu: Die Zeit der Großvergnügungsstätten ist vorbei. Links unten die „Riviera“, gegenüber von Kaffee Liebig gehe ich ans Ufer hinunter. Auf den Bänken an der Anlegestelle nur eine Frau, die die Schuhe ausgezogen hat und in der Sonne die BZ liest. „Montag kein Übersetzverkehr“ steht auf der Tafel der Stern- unhd Kreisschiffahrt. Das Betreten des Steges ist zwar nur „nach Aufforderung durch das Schiffspersonal“ gestattet, ich gehe trotzdem an den Rand, setze mich, lasse die Beine baumeln und genieße den einmaligen Wasser- und Seeblick auf Köpenicks Gegenüberseite.
Von meiner Wohnung am Ku’damm, fällt mir jetzt auf, hierher dauert es mit der S-Bahn des Südrings nicht länger als bis an den Wannsee, wo die anderen großen Boots- und Gesellschaftshäuser stehen. Den besten Blick auf die berühmte sechsbahnige Regattastrecke habe ich nachher, von dem kleinen Uferplatz, der dem Bezirksamt gegenüber der Libboldallee gehört. Auch da sitze ich ganz alleine. Ich versuche, die massenhaften Jubelschreie aus einem anderen August, vom 1936 zu hören. Damals wurde Grünau weltberühmt. Bei manchen ist der Name noch immer mit der Nazi-Olympiade verknüpft, so dass sie nicht wissen, dass die Sportgeschichte des Ortes viel älter ist. 1936 haben die Olympischen Ruderwettbewerbe hier stattgefunden, erstmalig in der Sportgeschichte Sechs-Bahnen-Start: Gewaltig, heißt es, die Beteiligung des Publikums, Zehntausende säumten die Ufer.
Das Zigaretten-Bilder-Werk über diese Olympiade liebt überhaupt den hymnischen Ton, hier erhebt er sich zur Nationallyrik: „Nichts Gleiches, nicht einmal etwas Ähnliches kannte die Olympia-Rudergeschichte seit ihrem Beginn… USA wurde vom Thron gestoßen – von Deutschland“. Goldmedaille auf Goldmedaille, Gustav Schäfer, Dresden, zum Beispiel, Goldmedaille im Einer, „Tränen strömten über das Anlitz“. Die Sportler trainieren auf Sieg, die Kollektive auf Wahn. So Gerhard Zwerenz, viel später. Die jubelnden Massen wissen ihre Niederlagen zu feiern.
Die Regattastraße ostwärts führt sozusagen über die Hintergründe der Sporthäuser, zwischen dem Spaziergänger und dem Wasser, die Einrichtungen. Hier komme ich mir etwas ausgeschlossen vor, ganz allein, keine jubelnden Massen, nur die Tram 68, die elgant durch das Waldstück rauscht. Ich kehre zurück zum Kaffee Liebig, das vielleicht schon bessere Zeiten erlebt hat. Es ist aber immer noch viel von altem Charme erhalten. Die Kaffee- und Teekarte ist bemerkenswert. Der Milchkaffee heißt Kaiser-Melange und ist in der Karte mit dem österreichischen Rot-Weiß-Rot gekennzeichnet. Ich fühle mich wohl auf der Terrasse. Ich werde bald wiederkommen. Nun wandere ich zurück, denn ich wollte hinter dem Grünauer S-Bahnhof noch hinüber auf die Treptower Seite. Dort liegt nicht weit, am Akazienhof, eine der baugeschichtlich berühmtesten, weil ersten Wohnbau-Ansiedlungen der Moderne, Bruno Tauts „Tuschkasten-Siedlung“, entstanden noch vor Tauts Ruhm, vor WK I und ganz zu seinem Beginn. Da rückte das genossenschaftliche und gewerkschaftliche Volk dicht heran an das Volk der Regattavillen. Die S-Bahn – eine soziale Wasserscheide? Ach nein, das hieße Unterschiede behaupten, wo gar keine mehr sind. Wo die Gegensätze sich berühren, heben sie sich doch auf.
Ich bin heute zu müde für Taut.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-19000-2079 / CC-BY-SA 3.0
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