Flüchtlingsheim, 1922

Es ist Abend. Der Zug ist über­füllt von schwat­zen­den und rauchen­den Menschen, die von der Arbeits­stätte kommen. Sie alle haben ein Heim. Dieses Heim ist viel­leicht dürf­tig und kalt und unfreund­lich, aber irgend­et­was befin­det sich doch darin, was sie mit diesen vier Pfäh­len innig verknüpft. Das kann ein Bild sein, ein alter Schrank. Es kann auch mehr oder noch weni­ger sein. Alle diese schwat­zen­den und rauchen­den Menschen wissen, wohin sie fahren. Sie haben Feier­abend. Sie haben ihre Arbeit getan. Sie sind sicher­lich nicht benei­dens­wert, die Leute, die Tag für Tag densel­ben Hand­griff tun müssen, um zu leben, um kärg­lich zu leben. Die Tag für Tag vor den Glut­öfen stehen, das Beil in das Holz schla­gen, mit dem Spaten die Erde ausste­chen. Es ist eine lust­lose und ermü­dende Arbeit. Und wenn sie spre­chen, spre­chen sie nur von ihrer Arbeit. Sie haben es längst verlernt, über andere Dinge zu reden. Sie wissen gar nicht mehr, dass es noch andere, schö­nere Sachen gibt als einen Hoch­ofen, einen Hobel, einen Spaten. Sie sind müde und zermürbt.
In Rummels­burg steige ich aus. Es regnet, und der Nebel — kriecht über die Wege, die aufge­weicht sind. Matt bren­nende Later­nen stie­ren in den Abend. Und wie ich durch diese trost­lose Gegend gehe, um einen im Flücht­lings­heim unter­ge­brach­ten Bekann­ten zu besu­chen, muss ich mit einem Mal an Sibi­rien denken. Und alle entsetz­li­chen Geschich­ten fallen mir wieder ein. Dass in die Ebene des Todes Menschen verschleppt wurden und unter den Hieben der Knute arbei­ten muss­ten. Ist das sibi­ri­sche Kapi­tel nicht das grau­en­vollste aus der Geschichte des Zaris­mus? Denkt, ihr werdet eines Tages vom Arbeits­platz weg verhaf­tet und in einen feuch­ten, schmut­zi­gen Keller gewor­fen. Und eines Tages holen sie euch, und ihr werdet verur­teilt, lebens­läng­lich in Sibi­rien zu leben. Viel­leicht seht ihr noch nicht einmal Frau und Kind, wenn sie euch wegschaf­fen. Ih erhal­tet eine ekel­hafte Klei­dung, werdet gefes­selt und müsst nun dort unten arbei­ten. Und wenn ihr nicht mehr könnt oder euch einen Augen­blick ausru­hen wollt, trifft euch der Kolben, trifft euch die Peit­sche. Grau­same menschen­un­wür­dige Taten waren das. Trost­lose, tränen­we­ckende, Bilder waren das.
Und an die muss ich also denken, wie ich hier an den Bau- und Gitter­zäu­nen entlang­gehe. Am Arbeits­haus vorüber. Waisen­haus. Korrek­ti­ons­an­stalt. Wieviel Tränen mögen dort schon geflos­sen sein? Wieviel Seelen mögen dort gefol­tert werden? Die Gegend hier ist besät mit Elends­quar­tie­ren. Und die Stille und Dunkel­heit des Abends, das eintö­nige Rauschen des Regens, der Nebel, der die Gebäude umgast, dass es schei­nen will, als beweg­ten sie sich, als brächen sie auf, um Regi­men­ter kran­ker, schwa­cher Menschen auszu­speien, strö­men eine Stim­mung aus, dass man weinen möchte. So schul­dig, so trost­los fühlt man sich.

Ich betrete das Flücht­lings­heim¹. Ich gehe über den großen fins­te­ren Hof und blicke in die Küche. Kein Mensch ist darin. Ich sehe große, blank­ge­scheu­erte Koch­kes­sel, in der Luft hängt noch der Geruch einer Suppe. Ich kenne diese großen Kessel aus meiner Mili­tär­zeit. Wie oft hat man davor gestan­den und sich das lieb­los zube­rei­tete Essen in den Napf schüt­ten lassen. Da kommt jemand über den Hof. Ein alter Mann. Er zeigt mir das Gebäude, in dem sich mein Bekann­ter befin­det. Ich betrete den Saal, ich sehe eine lange Reihe gerade ausge­rich­te­ter Betten, Wand­schränke, eine Wäsche­leine, auf der Klei­dungs­stü­cke hängen. Alles so unper­sön­lich, scha­blo­nen­haft, lang­wei­lig und stil­los, ein Unter­of­fi­zier würde sagen: ordnungs­ge­mäß. An einem langen Tisch sitzen einige Flücht­linge und spie­len Karten. Die Kaffee­kanne steht mitten auf dem Tisch. Ein Messer liegt da, ein Stück Brot, eine beschmierte Zeitung. Einige Leute hocken auf den Betten, stie­ren vor sich hin oder kramen in ihren Sachen. Ich grüße meinen Bekann­ten. Er ist älter gewor­den und müder und hoff­nungs­lo­ser. Er freut sich: Mit welch gerin­gen Mitteln kann man doch Freude erzeu­gen. Durch einen klei­nen Gang durch den Abend. Ja, und dann weiht er mich in alles ein. Er beschreibt die Leute. Ihre Gewohn­hei­ten. Er zählt Einzel­schick­sale auf. Grau­en­volle Abrisse aus einem kurzen Leben. Soll ich die hier wieder­ge­ben? Was würde das für einen Sinn haben. Zu wissen, dass der Mann X. das und das erlebt hat. Sie haben alle etwas erlebt. Gram­vol­les. Sie haben ihre Scholle verlas­sen müssen. Das, an dem sie gehan­gen haben. Der Wahn­witz der vier Kriegs­jahre hat sich bei ihnen ausge­wirkt. Man findet hier Leute aller Alters- und Berufs­klas­sen. Hand- und Kopf­ar­bei­ter. Intel­li­gente und Dumme. Aben­teu­rer und Spiess­bür­ger. Elsäs­ser, Balten, Russen, Schle­sier. Viel­leicht werden bald Rhein­län­der² hier sein. Die Opfer des Mili­ta­ris­mus.
Diese Menschen alle sind ohne Heim. Dieser Saal hier ist ein Aufent­halts­raum. Ein Warte­saal. Nichts weiter. Er ist kein Flücht­lings­heim.
Da sitzt, abseits von allen, ein Mann mit seiner Frau. Sie sitzen sich gegen­über, haben die Hände in den Schoß gelegt und den Kopf herun­ter­ge­beugt. Sie spre­chen nicht mitein­an­der. Bauen Sie Zukunfts­pläne? Geden­ken sie trüber oder sonni­ger Stun­den? Sie warten! Sie warten: wie alle hier. Wie die Karten­spie­ler, wie der alte Mann, der in seinen Sachen kramt und viel­leicht nach einer Nich­tig­keit sucht, nur um sich zu zerstreuen. Sie warten! Auf Arbeit, auf Geld, auf Hilfe. Manche warten schon seit Jahren. Und obgleich sie darüber müde gewor­den sind, glimmt in ihnen doch ein Funke von Opti­mis­mus. Der sofort Nahrung erhält, wenn sich in der großen, runden Welt ein poli­ti­sches Ereig­nis abspielt. Man kennt den Opti­mis­mus halb Verzwei­fel­ter. Keiner ist so blind und realen Erwä­gun­gen gegen­über taub wie der durch alle Etap­pen des Leides Gegan­gene, der auf eine Besse­rung seines Geschi­ckes hofft.
Welche Gerüchte kursie­ren nicht in diesem Schlaf­raum! Von russi­scher Waffen­hilfe. Von Nacht­ar­beit in phan­tas­ti­schen Gegen­den liegen­der Muni­ti­ons­fa­bri­ken.
Die Elsäs­ser³ sehen sich schon wieder auf ihrem Stück­chen Gehöft. Sie sehen nicht die Wege. Sie sehen, nur das Ziel. Ihr biss­chen Hab und Gut.
Und mein alter Bekann­ter erzählt und erzählt. Gewiss, hier trage sich viel Uner­freu­li­ches zu. Gestoh­len werde. Und manch­mal komme auch einer ange­trun­ken auf den Saal. Und dann gebe es. Zank und Streit. Der je nach Tempe­ra­ment der Betei­lig­ten in Ohrfei­gen oder auch Messer­ste­che­reien ausarte. Ja, das ist nun mal so. Viele Leute, die alle an demsel­ben Leid kran­ken, glei­ten im Grunde genom­men doch alle fremd anein­an­der vorüber. Aber manch­mal spiele sich auch Erfreu­li­ches ab. Da gibt es so etwas wie ein Konzert. Einer bringt eine Mando­line mit und spielt. Oder die Russen singen ihre schwer­mü­ti­gen Weisen. Und dann sieht man die endlose russi­sche Steppe. Hört das Geklin­gel der Schlit­ten. Oder aber einer bekommt von der Regie­rung die Entschä­di­gungs­summe ausge­zahlt. Das geht sie alle an. Neue Hoff­nun­gen erwa­chen.
Ja, und da ist auch mal folgen­des passiert: Eines Tages bekam ein in der Frau­en­ab­tei­lung liegen­des Mädchen ein Kind. Der Vater war ein junger Balte. Dieses Kind riss die ganze Haus­ord­nung über den Haufen. Der Inspek­tor war ratlos. Der Direk­tor schüt­telte miss­bil­li­gend das Haupt. Auf solche Fälle war niemand vorbe­rei­tet. Das gab wieder eine Menge Schrei­be­reien und Lauf­e­reien. Der Vater wurde ins Gebet genom­men. Aber das Kind kümmerte sich um all dies nicht. Es schrie und stram­pelte. War da. Mit blan­ken Augen und roten Fäust­chen…
Die Karten­spie­ler erhe­ben sich lärmend. Sie wollen rasch noch, auf eine Stunde in die Schenke gehen. Einer hat Geld bekom­men und will etwas ausge­ben. Nun, er wird für jeden ein Glas Bock­bier bezah­len. Und sie werden sich in der Kneipe um den Ofen setzen, Zeitung lesen oder sich etwas erzäh­len.
Auch ich gehe mit meinem Bekann­ten. Er erzählt mir noch, wann sie das Licht ausma­chen müssen, wieviel sie für die Verpfle­gung zahlen. Froh, wieder mal reden zu können. Ja, und seine Sache mache jetzt auch Fort­schritte. Er hätte gestern wieder eine Auskunft geben müssen. Und das hier sei die Arrest­an­stalt des Korrek­ti­ons­hau­ses. Und das hier die Biblio­thek. Und dort die Toten­halle
Wir marschie­ren durch den Regen. Ein klei­nes Haus taucht auf. Ein Güter­zug rollt heran.
Und bald hat der Nebel das Flücht­lings­heim verschluckt. Die ande­ren Gebäude drän­gen sich wieder vor. So recht prot­zen­haft, als sei es eine Ehre, eine “Besse­rungs­an­stalt” zu sein.
Der Wind peitscht den Regen gegen die Later­nen. Und in den Häusern sitzen die Sträf­linge, die Waisen­kin­der, die Fürsor­ge­zög­linge, die Flücht­linge. Und warten. Und warten…

Hardy Worm, 1922

¹ Die Flücht­lings­heime nach dem ersten Welt­krieg dien­ten der Aufnahme gestran­de­ter und durch den Krieg heimat­los gewor­de­ner Menschen
² Im Juni 1922 fand im Rhein-Ruhr­ge­biet ein Gene­ral­streik der Arbei­ter statt; am 11. Januar 1923 wurde das Rhein­land von fran­zö­si­schen und belgi­schen Trup­pen besetzt.
³ Elsass-Loth­rin­gen war nach dem Versailler Frie­dens­ver­trag (1919) an Frank­reich abge­tre­ten worden.

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