In einem vorigen Kapitel habe ich einen Spaziergang durch die Siedlung Elsengrund beschrieben; er führte nicht nur durch die Gegenwart, sondern auch durch Geschichte. Und da die hier heimische Geschichte eine sehr spezielle Geschichte ist, hat manchen nicht gefallen, was ich dort aus dem Gestern gesehen habe. Die Geschichte wird immer einfacher, je weiter die Gegenwart zurückliegt, von der sie zu handeln behauptet. Sie wird immer subjektiver, immer mehr Vorwand, für manchen ist sie schließlich nur noch eine Schuld abweisende Ikone. Heute will ich mir deshalb Mühe geben, nur das zu sehen, was man mit den Augen des Körpers sieht (die freilich in ziemlich direkter Verbindung mit der Seele stehen, aus der durch die Filter der Urteile und Vorurteile die Gefühle hervor drängen, sobald ihr gewisse Bildlichkeiten gemeldet werden). Ich fasse diesen Vorsatz in der Tram Nr. 28, die mich von der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, wo ich eben über die Zeugen Jehovas geredet habe und dass sie wahrscheinlich von unserem Verfassungsstaat verfassungswidrig behandelt werden, nach Karlshorst zur S‑Bahn bringt. Im Bahnhof Karlshorst sitzt auf der gegenüberliegenden Bank ein Betrunkener und unterhält die Wartenden mit witzigen Weltansichten; predigt, wie ich vorhin, nur witziger; jetzt sieht er mich, in mein Spiralbüchlein notierend; “He! Du da drüben!”, ruft er herüber, “Ich sag Dir, da kannsde schreiben, was de willst, dein Papier bleibt sowieso immer weiß!” Also: Es hat keinen Zweck, Erkenntnismitteilung sinnlos. Das würde ich ihm glauben, wenn er nicht gerade selbst dabei wäre, Erkenntnisse mitzuteilen. Ich breche meinen Weg nach Köpenick also nicht ab. Hinein in die dickluftige S3.
“Was mir auf den Senkel geht”, sagt die freundliche junge Frau im S‑Bahn-Separee nebenan zu ihrem Freund: “Dieses ewige: Das habe ich nicht gewusst”. Das allgemeine Geschichtsverarbeitungsgespräch geht also weiter, als ob es einen die ganze Stadt überstreckenden Zusammenhang hätte. “Zurückbleiben!” schreit auf dem Bahnhof Wuhlheide der Herr des Bahnsteigs mit barscher Militärstimme. “Jaja”, sagt der Kleine mit dem Schulranzen neben mir, leise für sich, “Jaja, ich habs gehört, Alter”. Da wächst ein echter Berliner heran. Ich freue mich. Ankunft Köpenick 15.09. Hinunter über die Bahnhofstreppe, dicht an dicht, wie durch einen Trichter, Köpenick wird mit Menschen gefüllt.
“Original echter Eros-Ramazotti-Wein, lecker, lecker”, ruft der selbstbewusste Obstständler. Vor der Wall-Toilette eine kleine Schlange, ich muss warten. Die 50 Pfennige zahle ich gerne, als ich endlich dran bin. Erleichtert dann die Mahlsdorfer Straße nordwärts. Wirklich eine “Ausfallstraße”, jeder sieht: hier geht’s hinaus, die Häuser weichen zurück, rechts in ihrer brenneschen Farbigkeit — denn Winfried Brenne heißt der Architekt, der hier die Häuserfarben verantwortet, die spätexpressionistischen Fassaden, die den Eingang von der Hauptstraße in die Mittelheide schmücken. Vor allem den Türen hat Architekt Brenne eine interessante, neuartige Farbigkeit verliehen, die dem Denkmalschutz missfällt. Mir dagegen missfällt der Denkmalschutz, diese Geschichtsversteinerungsbehörde, die nicht weiß, dass Zeit etwas ist, was nicht bewahrt werden kann. Das Leben ist kein Museum. Nach einem kleinen Stückchen Mittelheide, hinaufsteigend zu den höher gelegenen Häusern und über den Rasen die schlechtgeländrige Treppe hinab gelange ich in das erste Märchenstück, die Rotkäppchenstraße; ein 20er-Jahre-Name, als wohl die Optimisten dachten, alles werde gutgehen mit dem Land der Brüder Grimm. Die Straße beginnt mit Sand und Stille, links ein Neubauvorhaben, sechs Eigentumswohnungen, Kimberley, daneben ein neues Walmdachhäuschen, das aussieht wie Goethes Gartenhaus, nur abgekürzt, amputiert. Nach rechts ein Stück Dornröschenstraße. Die Gegend hat tatsächlich etwas Dornröschenhaftes, Verschlossenes, Erweckungsbedürftiges. Auf einen Prinzen wartet aber hier wohl niemand. Gegenüber der Filiale von Tip Discount, die hier wirkt wie ein Stück Wirklichkeit im Märchen, biegt der Rautedeleinweg ab, ein Name wie ein Kurzgedicht, Köpenicker Haiku. Hier bin ich ganz allein, kein Mensch sonst, aus der Stadt ausgetreten.
Auf diesem Weg komme ich zu Rotkäppchen zurück. Die Gegend wirkt jetzt immer märkischer, der Gebietsleiter der Bausparkasse wohnt hier passend. Die Genovevastraße grenzt schon an den Wald, noch eine Schrebergartenkolonie, dann ist die Stadt zu Ende. Auf der anderen Seite der Mahlsdorfer Straße heißt diese Straße “Unter den Birken”, eine schöne Straße mit beruhigend breitem, birkenbestandenem Mittelstreifen. Auf dem Granit an ihrem Beginn steht: “Zum Gedenken an die Opfer der Köpenicker Blutwoche. Hier sind im Juni 1933 im ehemaligen SA-Sturmlokal aufrechte Antifaschisten misshandlet und ermordet worden”. Rechts und links folgen immer mehr Goethesgartenhäuser. Nach links über Güldenauer Weg — viele Straßen heißen hier nach Orten in der Exprovinz Posen, ihre gültigen Namen sind polnisch — in die Pflanzgartenstraße, die mit der Dammheide einen dreieckigen Platz bildet, der wie ein Satzzeichen wirkt: ein Punkt hinter die Sätze der Stadt. Eine Gegend — man sieht es — die immer bevorzugter wird bei solchen, die an der Stadt das Nichtstädtische lieben. Dann gehe ich beschleunigten Schrittes die Filehner Straße hinunter, weil ich nicht möchte, dass mich hier die Dunkelheit überrascht.
Fast hätte ich die Straße schon abgelehnt, als ich zur Rechten das Birkenwäldchen sehe, so schön, rührend, dass die Motorsäge, die ich hinten höre, mir fast ins Herz schneidet.
Weiter unten ist die Straße städtischer. Bunte Neubauten, aber das Bauschild der tüchtigen KöWoGe belehrt mich darüber, dass es sich um “Instandsetzung und Modernisierung von industriell gefertigten Wohngebäuden” handelt. In die lila Kita gehen junge Mütter mit ernstem Arbeitsgesicht und kommen lächelnd wieder heraus, nachdem sie ihre Kinder gesund wiederhaben. Gegenüber dem Wohnhaus von Erich Janitzky komme ich zum Anfang meines ungeschichtlichen Märchenwegs zurück. In der untergehenden Sonne leuchtet die frische Fassade braunrot. Ich habe Hunger. Mit dem Bus ins Forum Köpenick. Es sind mehr Menschen drinnen als draußen, endlich gibts hier in der Gegend vertretbaren Kaffee. Hier bin ich nicht mehr in Köpenick, sondern in der Überallwelt der Centers und Foren. Die Epoche der Foren und Zentren. So wird man unsere Gegenwart nennen, wenn wir Vergangenheit geworden sind. Aber jetzt ist jetzt. Die Eule der Minerva schläft noch in ihrem Horst. Ich fühle mich märchenhaft. Als der barsche Bahnhofschef in Wuhlheide diesmal sein wölfisches “Zurückbleiben!” bellt, fahre ich schon.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
Foto: Saalebaer / CC0 1.0
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