Buchholz Stadt

Wo soll ich diese Geschichte begin­nen lassen? In der West­fä­li­schen Straße (in Wilmers­dorf), wo ich wohne, oben am Ku’damm, hinter dem bis in die begin­nen­den 30er Jahre der Luna-Park folgte: die Volks­un­ter­hal­tungs­stätte, die jetzt einge­fan­gen ist von der Grune­wald­haf­tig­keit, die der Kommer­zi­en­rat Koenig hier oben eröff­nete, für die Reichen und Konser­va­ti­ven, deren Leben sich dann in vielen trau­ri­gen Fällen verän­derte ohne Rück­sicht auf Reich­tum und Mittel­haf­tig­keit: Als Deutsch­land sich zurief: Deutsch­land erwa­che, begann es unter­zu­ge­hen.
Nein, so südwest­lich kann ich meinen heuti­gen Spazier­gang nicht begin­nen lassen, sonst komme ich auf diesen Seiten nie da an, wo ich hin will. Die Gleich­ar­tig­keit in aller Gegen­sätz­lich­keit würde mich frei­lich auf manchen Gedan­ken brin­gen: von der Villen­ko­lo­nie Grune­wald zu den Kolo­nien um Buch­holz: Kolo­nie Ertrag­reich, südöst­lich vom Dorf­mit­tel­punkt (darf man Dorf sagen?), Glücks­klee, Feld­weg, Erho­lung, Berg­fried, Krug­pfuhl, Garten­vörde, Idehorst, Koppel­gra­ben, Möllers­felde: von Grune­wald nach Froh­sinn: was wäre das für ein Titel? Welche Gedan­ken würde er steu­ern?
Wenn ich an der Kolo­nie Froh­sinn vorüber komme, südlich vom Rosen­tha­ler Weg, wohl schon zu Blan­ken­felde und nicht mehr zu Buch­holz zählend, bin ich schon fast durch das ganze Gebiet, das ich heute durch­wan­dern, beschrei­ben will; mehr als eine Annonce der neuen Stadt zwischen Navarra- und Huge­not­ten­platz wird mir nicht gelin­gen. Es gibt zu viel zu asso­zi­ie­ren.

Die Stadt wächst, 1620, als der große Kurfürst gebo­ren wurde, der die Huge­not­ten rief, hatte Berlin 6000 Einwoh­ner; als die Huge­not­ten, die aus Frank­reich Vertrie­be­nen, gekom­men waren, Asyl­be­wer­ber, Asylan­ten, über 20.000. Ihret­we­gen hieß Buch­holz bis 1913 Fran­zö­sisch Buch­holz. Dann führte Deutsch­land Krieg gegen Frank­reich und wollte sich nicht mehr erin­nern lassen, dass es auch fran­zö­si­sche Ursprünge hat. Natio­na­lis­mus statt Europa. Blutige Auslän­der­feind­lich­keit, die eigent­lich eine Fami­li­en­feind­lich­keit war. Ist?
Es regnet. Ich stehe mit meiner Lebens­freun­din eng unterm Schirm vor der Buch­hol­zer Kirche, am Pfar­rer-Hurti­enne-Platz, die Kirche ist geschlos­sen, die meis­ten Häuser Gottes sind zu, Gott ist ausge­zo­gen. Albert Hurti­enne, ein Huge­not­ten-Nach­komme also (wie Fontane: dieses Ideal­bild des Berli­ners) war in Fran­zö­sisch-Buch­holz der letzte Seel­sor­ger der fran­zö­sisch-refor­mier­ten Gemeinde; vor der Kirche eine Bank, “gestif­tet von Markus Hurti­enne und Thea Schä­fer, geb. Hurti­enne”, viel­leicht die Kinder des aufrech­ten Pastors?

“Huge­not­ten in Buch­holz, bele­bende Kraft seit 1685”, sagt der Gedenk­stein in der Platz­mitte. 1685 war die Reli­gi­ons­frei­heit in Frank­reich erst mal aus, Edikt von Nantes, der Bran­den­bur­ger Kurfürst, den man allein deshalb wohl den großen nennen kann, antwor­tete mit einem Edikt von Pots­dam: Auslän­der kommt her in den märki­schen Sand und lasst ihn blühen.
“Mit uner­schüt­ter­li­cher Treue”, schrieb am Ende des 19. Jahr­hun­derts der preu­ßi­sche Hofar­chi­var, “haben die Huge­not­ten der neuen Heimat gedankt und die Befürch­tun­gen, die man bei Aufnahme einer so großen Zahl Frem­der wohl haben konnte, zuschan­den gemacht.” Daraus hätte Bran­den­burg-Preu­ßen, Deutsch­land, etwas lernen können; daraus kann es immer noch viel lernen; müsste es drin­gend eini­ges lernen.
Wir gehen schweig­sam durch den Regen, die Mühlen­straße entlang, nach­denk­lich, als ob wir für das Geschick Deutsch­lands verant­wort­lich wären. “Sind wir doch auch”, sagt meine Lebens­freun­din, “ist jeder. Auslän­der­feind­lich­keit gibt es, weil ’normale Menschen’ auslän­der­feind­lich sind, nicht weil Innen­mi­nis­ter Kanther es ist.”
Die Wege durch den Fried­hof am Navar­ra­platz sind aufge­weicht, meine Lebens­freun­din trägt einen elegan­ten grau-blauen Anzug und schöne spitze Schuhe. In der Eingangs­log­gia der Kapelle steht ein mitfüh­lend blicken­der Mann, der uns viel­leicht für die Leid­tra­gen­den hält.
“Sollen wir was betrauen?”, fragt Liesel und antwor­tet selbst: “Zu betrau­ern gibt’s immer was. Aber auch zum Freuen.” Sie zieht mich enger an sich. ich freue mich. Dass ich sie habe. Dass ich lebe. Dass ich mir meine Gedan­ken machen kann. Ich erkläre ihr den Navar­ra­platz mit dem König von Navarra. Henri Nummer vier, dem Paris später eine Messe wert war: auf Konfes­sio­nen kommt’s nicht an, Ausgleich, Versöh­nung ist höher.

Damit sind wir nun in dem sich auf der gewe­se­nen Anlage “Schweiz­er­land” erhe­be­nen Neubau­an­lage, die wir von jetzt an “Buch­holz Stadt” nennen. Denn es ist ein städ­ti­sches Quar­tier, ob es ein Berli­ner Vier­tel ist (oder nicht doch eine ganz eigene, allei­nige Stadt), das wissen wir noch nicht.
Hinüber zum Märki­schen Vier­tel in Reini­cken­dorf, dem sozio­lo­gisch-poli­ti­schen Problem­ge­biet, ehema­li­gem Problem­ge­biet viel­leicht, wäre es ja über Rosen­tha­ler Weg, an der Indus­trie­bahn entlang, an der bezie­hungs­rei­chen Kolo­nie Einig­keit vorüber, gar nicht so weit. Nein, Buch­holz Stadt sieht anders aus als das Märki­sche Vier­tel aussah, als es entstand.

Wir sitzen in der Markt­schänke am weit­läu­fig drei­ecki­gen Huge­not­ten­platz, dem der Archi­tekt wirk­lich einen Platz­cha­rak­ter verschafft hat, obwohl das gewiss keine einfa­che Aufgabe war, denn eigent­lich fehlt die Geschlos­sen­heit. Der Archi­tekt der Häuser an den beiden Platz­sei­ten, die allei­nige Seiten genannt werden können, heißt Frank Fried­rich, aber viel­leicht sind für die Platz­form die Städ­te­bauer verant­wort­lich, Engel und Zillich, wohl auch Berli­ner.
Nun muss noch das Leben kommen. Das Quar­tier fängt an, sich zu bele­ben. Es ist noch nicht fertig, die ersten Bewoh­ner sind aber schon da. Die Haus­for­men sind unter­schied­lich, abwech­selnd, nicht mono­ton, nicht lang­wei­lig. Die Archi­tek­ten haben sich unzeit­geist­li­che Mühe gege­ben, scheint es.

Aber wer von ihnen hat den Ausdruck “Stadt­kan­ten” erfun­den? Das Areal ist über 51 Hektar groß. Wo es in Land­schaft über­geht, ins Eigen­heim­li­che, Schre­ber­gärt­ner­li­che, ins weite Land, liegen — sagen die Städ­te­bauer — die Stadt­kan­ten. Buch­holz ist kein Dorf, keine Vorstadt, sondern eine Stadt. Mit Worten baut man keine Stadt, nicht aus dem Städ­te­bau kommt die Stadt, sondern von den Menschen. Und von dem, was die Archi­tek­ten in ihrer büro­kra­ti­schen Fach­spra­che (und leider ja nicht nur sie) die Infra­struk­tur nennen.
Die Schule sehen wir wach­sen (mit Sonder­zug für lern­be­hin­derte Kinder:) diese Züge, Normal- und Sonder­züge; drei­zü­gig, das könnte doch ein Adjek­tiv für ein Folter­in­stru­ment sein. Meine Freun­din war in einem ande­ren Leben Lehre­rin: “Die Schul­kin­der sind doch nicht das Problem”, sagt sie, “in die Schule gehen die Kinder, weil sie müssen und manche auch, weil sie wollen. Aber wo gehen die Jugend­li­chen hin, wenn die Schule aus ist?” Ob die Tram nach Buch­holz Stadt kommt, ist wohl noch unsi­cher. Der Boden, auf dem diese Stadt an den Kanten der Stadt Berlin empor­wächst, war auch einst Kolo­nie­bo­den. Kolo­nien — Erwei­te­run­gen des Mutter­lan­des in das Eroberte hinein, Land­schaft, die eine Heimat hat, die anderswo liegt.

Während wir nach Pankow-Mitte fahren und dann über die Ossietz­ky­straße durch den Schloss­park gehen, der immer noch daran erin­nert, wie er verschlos­sen war, denken wir uns nach Grune­wald hinüber und verglei­chen Kolo­nien mit Kolo­nien. Wenn man am S‑Bahnhof Pankow einsteigt, muss man nur einmal umstei­gen und kann sitzen­blei­ben bis Wann­see.
Wo sind wir da über die Stadt­kan­ten hinaus­ge­kom­men? Die Stra­ßen machen die Stadt. Die Verkehrs­wege. Die Probleme kommen immer mit.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Zufallstreffer

Bücher

Gestern Nacht im Taxi

Bücher von Taxi­fah­rern gibts mitt­ler­weile reich­lich, auch ich habe den Berg vor einem halben Jahr um eines erhöht. Bei den meis­ten die ich gele­sen habe bin ich jedoch nicht über die ersten zehn Seiten hinaus­ge­kom­men. […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*