Von Pol zu Pol

Vom äußers­ten Süden bis in den höchs­ten Norden will ich den neuen Groß-Bezirk Fried­richs­hain-Kreuz­berg durch­wan­dern, um heraus­zu­fin­den, welche Wirk­lich­keit diese Verwal­tung­ge­burt benen­nen wird, wenn sie nach Jahren been­det ist. Der Südpol von Fried­richs­hain-Kreuz­berg, sagen wir: des 2. Bezirks, der an manchen Stel­len wie der 1. aussieht, liegt am Colum­bia­damm, gegen­über dem Flug­ha­fen, den der Nazi-Archi­tekt Sage­biel eindrucks­voll (da hilft nun nichts) gebaut hat, ehe sich nach Luft­fahrt-Minis­te­rium und Flug­ha­fen und eini­gen Flie­ger­hors­ten seine Spuren ins Unbe­kannte verlo­ren. Der Damm, an dem ich also jetzt Ecke Golße­ner Straße stehe, heißt nach einem ameri­ka­ni­schen Flug­zeug, mit dem die Pilo­ten Cham­ber­lin und Levine am 4. Juni 1927 in New York abge­flo­gen und 43 Stun­den später hier drüben auf dem Tempel­ho­fer Feld gelan­det waren. Damit begann für dieses, das 19. Jahr­hun­dert mehr­fach illus­trie­rende Solda­ten-Aufmarsch-Gelände eine neue, moder­nere Geschichte.

Hier stand neben der Garde­ka­ser­nen, die noch da sind und von der Poli­zei genutzt werden, das Mili­tär­ge­fäng­nis, das ein paar Jahre nach der moder­nen Colum­bia auch eine neue Moder­ni­tät gewann: ein wilder Able­ger des großen Bau- und Sozi­al­typs etablierte sich hier, mit dem das 20. Jahr­hun­dert die Mensch­heits-Geschichte ergänzt hat: ein KZ, eine deut­sche Folter­stätte. Ein rosti­ges Eisen­mal auf der Stra­ßen­wiese erin­nert daran, als ein trau­ri­ges Beispiel dafür, wie die Versu­che dane­ben gehen, dem deut­schen Schre­cken ein deut­sches Mahn­mal zu errich­ten. Was das tägli­che Erin­nern nicht wahr­ha­ben will, das bringt auch die Kunst nicht ins Bewusst­sein. Hier will der Alltag schnell hin und her, von Tempel­hof nach Neukölln. Der Colum­bia­damm ist eine Auto­straße, außer mir geht hier an diesem sonni­gen Vormit­tag niemand zu Fuß, es muss also auch niemand dieses merk­wür­dige Schild an der Poli­zei­ka­serne lesen, auf dem der Garde­kür­as­se­rie gedacht wird, die 1914 auszo­gen und 1918 nicht zurück kamen, der letzte Offi­zier “beim Gegen­an­griff” gefal­len. Was denken sich die Leute, die solche Schil­der annageln und nicht beschämt abneh­men: Helden­lie­der zu singen über kollek­tive Mord­ta­ten, deren Mörder verschwie­gen werden?

Nun gehe ich durch die ruhige Golße­ner Straße, die auf der ande­ren, Nicht-Poli­zei-Seite in die Zivi­li­tät von Schre­ber­gär­ten über­geht; sie läuft direkt auf die Rück­seite der Fried­hofs-Anlage zu, die für mich eine der eindrucks­volls­ten in Berlin ist. Die Fried­höfe, die sich von der Berg­mann­straße in die Tempel­ho­fer Berge herauf­zie­hen, enden hier. Ein Stück weiter findet man von der Golße­ner Straße einen Eingang in diese Toten­ab­hänge, die auch für die Leben­den so schön sind, da fließt müde Melan­cho­lie abwärts auf den Stadt­tru­bel zu (oder — von der ande­ren Seite — steigt lang­sam auf, und wenn über dem Tempel­ho­fer Feld die Sonne liegt, denkt man: zum Licht, zum Licht).

Heute bleibt ich drau­ßen, um die Züllich­auer Straße auf mich wirken zu lassen, die — ehe sie in der Lili­en­thal­straße endet und sich in ihr fort­setzt — im träu­me­ri­schen Schwung an den Grab­mä­lern entlang führt, die Seite an Seite hier ihre Rücken herzei­gend die Grenze zwischen den Leben­den und den Toten bilden. Keine Grab­wand, die nicht ein gespray­tes Liebes­be­kennt­nis trägt. Wenn die Tage enden, kommen hier nur noch wenige Menschen entlang, auch jetzt am hellen Mittag bin ich, von den Auto­dri­vern abge­se­hen, die diesen Schleich­weg kennen, der einzige, fast der einzige, der andere, der schnel­len Schritts vorüber­eilt, verhält kurz, fragt mich freund­lich, ob er mir helfen kann und konsta­tiert später auf seinem Rück­weg: “Sie gehen ja hier gründ­lich lang”. Das bin ich schon an der schö­nen Fassa­den­front, die nach einem torten­stü­cki­gen Neubau in der Lili­en­thal­straße die Berg­mann­stra­ßen-Fried­höfe von dem Stand­ort-Fried­hof trennt, der schon zu Neukölln gehört und im Süden, fast am Südstern mit der Johan­nes-Basi­lika schließt. Die Kirche auf dem Südstern war die evan­ge­li­sche Garni­sons­kir­che, diese hier die katho­li­sche; über ihrem präch­ti­gen Tor spricht der heilige Johan­nes zu den Solda­ten, es sieht nicht so aus, als ob er ihnen sagte: Schwer­ter zu Pflug­scha­ren, wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkom­men. 100 Jahre sind diese Mili­tär­kir­chen nun alt, immer­hin mehr als die Hälfte der Zeit hat niemand mehr von ihnen Heili­gung des Tötungs­hand­werks verlangt.

Hier in der Nähe, hört man, will der Papst aus Rom seine Berli­ner Botschaft errich­ten, am Haus gegen­über protes­tiert eine Bürger­initia­tive dage­gen. Das Ristor­ante an der Ecke heißt Stelle du Sud, Stern des Südens, Südstern: das hört sich viel poeti­scher an als Kaiser-Fried­rich-Platz und Garde­pio­nier­platz; seit 1947 hat der Platz mit den sieben Stra­ßen­mün­dun­gen diesen himm­li­schen Namen, 50 Jahre Kaiser und Solda­ten, das andere halbe Jahr­hun­dert Sterne und Firma­ment. Die Bar, in der ich gegen­über einen Milch­kaf­fee trinke und meiner 90-jähri­gen Mutter eine Karte über die Sonne schreibe, in der ich hier sitze, heißt “Wunder­bar”. Durch diese knei­pen­dichte, lebhafte Körte­straße, deren ärzt­li­cher Namens­ge­ber schon auf das Urban-Kran­ken­haus verweist, das sich west­lich bis ans Land­wehr­was­ser erstreckt, laufe ich nord­wärts, bis ich auf der Admi­rals­brü­cke stehe, gerade in der Mitte, am schmie­de­ei­ser­nen Gelän­der, ein Eis essen­des Liebes­paar auf der ande­ren Seite, die Schwäne blicken herauf, ob sie was abkrie­gen; da denke ich: Das ist eine der schöns­ten Stel­len der Stadt, hier über dem Wasser zu stehen, in der warmen Früh­lings­sonne und keine ande­ren Sorgen zu haben als die, die die Zeit einem auf den Rücken legt: ich wünsche mir kein größe­res Glück. Ich verweile also hier zu lange, um auch nur bis zur Schil­ling­brü­cke zu kommen. Dort­hin hab ich die Mitte des 2. Bezirks verlegt, und dort begänne also die zweite Hälfte meiner Bezirks­durch­que­rung, bis sie am nörd­li­chen Ende des Volks­parks endete. Das nächste Mal.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Zufallstreffer

Spaziergänge

Schwerter und Pflugscharen

Das Stadt­drei­eck, das sich auf der Hypo­te­nuse Münz­straße mit den Seiten Alte Schön­hau­ser und Almstadt­straße bis zum Rosa-Luxe­m­­burg-Platz erhebt, Max-Beer-Straße und Schen­del­gasse kreuz­weise inmit­ten, empfehle ich zur Auf- und Abwan­de­rung an einem Sonn­a­bend-Vormi­t­­tag, der in […]

Erinnerungen

Das Urban

Schon mein ganzes Leben lang beglei­tet mich das “Kran­ken­haus am Urban” in Kreuz­berg. Bereits als klei­nes Kind war ich öfter dort, wenn mal wieder was kaputt gegan­gen war. Da wir in der Nähe wohn­ten, war […]

1 Kommentar

  1. “Das ist eine der schöns­ten Stel­len der Stadt, hier über dem Wasser zu stehen, in der warmen Früh­lings­sonne und keine ande­ren Sorgen zu haben als die, die die Zeit einem auf den Rücken legt: ich wünsche mir kein größe­res Glück. ”

    Da kann ich nur zustim­men. Inzwi­schen aber auch ganz viele andere Menschen. Schade, damals war das noch ein ruhi­ger, lauschi­ger Ort.

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*