Wir müssen anfangen, in anderen Stadt-Kategorien zu denken. Der Metropolen-Bezirk, der von der Dennewitzstraße im Süden bis zur Nordbahn im Norden reicht, von der Schilling- bis zur Hinckeldeybrücke, vom Flugplatz Tegel bis zum dreischiffigen Bahn-Hauptquartier und dessen wirkliche Mitte wir erst noch suchen müssen, muss auch den Platz in unserem Bewusstsein erst finden.
Mein erster Drei-Bezirke-Rundweg beginnt in Tiergarten, dort wo es direkt “Tiergarten” heißt: Am S‑Bahnhof über der Avenue des Aufstandes, Straße des 17. Juni. Ich komme über die gelb-geländerte Wullenweber-Brücke heran, aus Moabit, wo ein früher Teil meiner Richtervergangenheit im Vergessen liegt, und trete ein in die Gegenwart eines vergessenen Quartiers. Bevor hier alles in Schutt und Asche sank, war Siegmundshof ein Stadtquartier, das in die Literaturgeschichte hineinreicht, Käsebier (zum Beispiel, aber wer kennt Käsebier?) wurde von seiner Geistesmutter — sie hieß Gabriele Tergit — von hier ausgeschickt, um den Kurfürstendamm zu erobern. Und um die Ecke wohnte “Frau Hemples Tochter”, von der wir — dank Alice Berend — wissen, wie es unter ihrem Sofa aussah. Die rostige Stele, die Addas Jsroel hier aufgestellt hat und die ein bisschen aussieht wie ein Kinder-Schiff, das südwärts fährt, hält Namen fest; man kann sie nur noch schwer lesen, hier verblasst die Erinnerung im buchstäblichen Sinne. Das Gedächtnis reicht nicht weit zurück, die meisten Menschen kennen die Mädchennamen ihrer Großmütter nicht und wissen nichts von dem, was diese Mütter verschwiegen. Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei … das war ein Lied, das hier populär war, als eine Gegenwart in Schutt und Asche versank, die die Deutschen vorher schon innerlich zerstört hatten. Zwischen Wasser und Bahn sieht alles hier noch aus wie Westberlin.
Die elegante Schwingung aber, mit der die S‑Bahntrasse hier Bahnhof Tiergarten bis zur Friedrichstraße die Spree kommentiert, führt die Stadtbahn durch eine erstklassische Inszenierung. Die Gelegenheit muss man nutzen, mehrfach, häufig, bis man sie nämlich nicht mehr nutzen kann, weil alle Regierungsbauten fertig sind, die rechter Hand entstehen. Die Kuppel des Reichstags schließt sich schon, aber man kann das Innenteil noch sehen, das wie ein Trichter aussieht, durch den die himmlische Weisheit auf die Parlamentäre des Volkes ausgegossen oder ihnen eingetrichtert wird.
Wenn der Zug im Bahnhof — hier passt aber wirklich: “auf dem Bahnhof” — Friedrichstraße hält, ist man im Bezirk Mitte; das merkt man nicht, das interessiert nicht, uns das ist auch übers Jahr nicht mehr so.
Dieser Bahnhof war der Bahnhof der Bahnhöfe für das geteilte Berlin, ein Tränenort, Ort der Erregung und der Aufregung, von obrigkeitlicher Düsternis. Und jetzt, eben fertig werdend, am Sonnentag eine durchhimmelte Doppelhalle, licht, bürger‑, sagen wir: konsumentenfreundlich, kleine Geschäfte, Snack-Bars; das kann ein volkstümliches Feinschmeckerzentrum werden. Der Bahnhof Friedrichstraße illustriert die Schönheit der Wiedervereinigung. Das Tollste ist das WC-Zentrum. Das Wort habe ich sonst noch nie gelesen. Eine Mark fünfzig Eintritt, ein Drehkreuz, daneben der Wechselautomat, zwei freundliche Damen im weißen Kittel arbeiten mit dem Saubertuch und stehen für jede Auskunft zur Verfügung, die Urinale erkenne ich erst nicht, sie wirken wie schmückende Verzierungen. Die Reinigungsdame, die mein Zögern bemerkt, meint beruhigend: “Nur zu, es geht alles ganz einfach”, bezahlt wird mit dem stolzen Preis also Sauberkeit und Gesellschaft.
Von Friedrichstraße fahre ich mit der U6 nach Wedding, zum Leopoldplatz. Im Gewimmel der Aus- und Einsteigenden geht, vielmehr: schreitet eine aufregend schöne, große, schwarze Frau an mir vorüber, das Lächeln werde ich den ganzen Tag nicht vergessen, tatsächlich träume ich sogar davon (und in diesem Traum hat sich die Frau zu mir umgedreht und hat mich geküsst). Das weiß ich noch nicht, als ich mir auf dem gepflasterten abgeheckten Platz-im-Platz vor Schinkels sparsamer Nazareth-Kirche eine Bank trocken wische. Im Anblick des kleinen nackten Jünglings, der hierneben anbetende die Arme hochstreckt, sagt der Alte neben mir zu seiner Alten — nachdem sie wohl beide schon ein bisschen drin haben-: “naja, bei dett Wetter jeht die Bekleidung vielleicht, aber meistens ist dochn kleenet Mäntelchen besser”. Auf grünem Schild wirbt die Nazareth-Gemeinde für ihren Sonntagsgottesdienst in der großen hinter der kleinen Kirche, die für die Hiesigen eigentlich immer zu groß war. So viel Verehrung genießt der Gott hier nicht. Er hat ja auch wirklich wenig für die Leute getan. Das Beste ist vielleicht zur Zeit Karstadt, das kulinarisch bestens ausgestattete Kaufhaus an der Ecke. Am Eingang wird die Hamburger ZEIT für drei Wochen kostenlos angeboten. Die meisten sagen Nein und bedanken sich höflich, einer will witzig sein: “Bin arbeitslos, hab schon Zeit genug”. “Gerade dafür brauchen Sie die ZEIT”, wäre die schnelle Antwort gewesen.
Auf dem Bahnsteig der U9 unten lässt Le CroBag durch propere junge Leute seine süßen Hörnchen mit dem französischen Namen verkaufen. Das kann doch gar nicht besser sein. Ich muss mich bei Gott entschuldigen: Für den Leopoldplatz ist gut gesorgt.
Im Nu bin ich mit der U9 am Hansaplatz. Da schließt sich die Runde fast. Gleich am Ausgang liegt — in populärer Kinohaftigkeit — das weltberühmte Grips-Theater, das — eine linke Geschichte — immer noch eifrig an der Aufarbeitung seiner und unserer Geschichte arbeitet. Wenn die Kinder drinnen fröhlich lachen über den Theater-Opa, der ihrem eigenen Opa gleicht, wissen sie gar nicht, dass sie in einem Museum sitzen. Das ist das Hansaviertel. Seine Interbau-Gegenwart ist auch längst Vergangenheit. Jetzt besteht es nur aus hohen Häusern in freundlichem Grün und beweist nichts mehr. Weiter hinten sieht die Akademie der Künste aus, als ob ihr die Kraft fehlte, ganz aus dem Boden heraus zu wachsen, oder als ob sie langsam versänke.
“Wenn ich hier in der Sonne sitze und denke an 1943”, sagt die Alte auf der Nachbarbank zu ihrer zufälligen Banknachbarin.
“Wie alt sind Sie denn?”
“89…, 89…, bald 90… Alles weg, nur ich bin noch da”.
Die Stiefmütterchen im engen Betonbeet nicken. Eine braune junge Frau kommt in energischem Schritt vorüber, die Schmuckblättchen am silbernen Armband klirren.
Meine Rundreise durch drei oder vier Mentalitäten, durch die Verschiedenheiten eines inneren Stadtbezirks, der — wenn es ihn gibt — nicht nur äußerlich und nach Zahlen größer ist als das ganze Bonn, hat etwas länger gedauert als drei Stunden, Fahrpreis U- und S‑Bahn insgesamt sechs Mark vierzig, gutes Preis-Leistungs-Verhältnis.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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