Wenn man den Wedding von Schwedler (er hätte sagen können: von Willy Brandt) mit der Friedrichstraße vergleicht …” Den Mann, der nach einem Vortrag von Professor Geist in der Akademie der Künste am Hanseatenweg in Tiergarten diesen Satz begann zu einem Glas kühlen französischen Weins, kannte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, dass er mich den Tag über begleitet hätte. Denn ich war vom Amtsgericht Wedding, meiner Arbeitsstelle in einem anderen Leben, herübergekommen, hatte auf der Millionenbrücke versucht, den Eindruck zu rekonstruieren, den die Gegend hier noch in den späten 60er Jahren bot, ehe die Sanierung begann unter Bausenator Schwedler.
“140.000 Berliner zittern vor dem Sanierungsprogramm des Senats”, schrieb die BZ; der Regierende Bürgermeister Willy Brandt erklärte: keineswegs soll ein völliger Kahlschlag erfolgen. Die SPD regierte Westberlin. Tod durch Sanierung” hieß es manchmal 1968 in der damals laufenden Kulturrevolution, die wir gerade unter Jubiläumserinnerungen vergessen haben. Jetzt kommt mir das Berlin, das ich rundum von der Millionenbrücke sehe, heimisch vor; es ist das Berlin, das ich kenne; das Berlin, das davor war, ist in die Bücher zurückgesunken, aus denen es nur eine nostalgisierende Vergangenheitsbetrachtung — Geschichte kann man das ja gar nicht nennen — hervorholt.
Ich fahre mit der U‑Bahn bis Hansaplatz, um durch die gartenstädtische Grünflächigkeit der Bauausstellung von 1956 zur Akademie der Künste zu gehen. Ich will das Akademiemitglied Prof. Geist hören; in dem epochalen Buch über das Berliner Mietshaus, das er mit Klaus Kürvers geschrieben hat, heißt der drittletzte Satz: “Die Wohnungsfrage zu lösen, ohne die Verteilungsfrage mit zu regeln, bleibt eine Utopie”. Darüber denke ich nach; durch die Grünschleier des Tiergartens sehe ich immer noch den Wedding. “…ein NEUES BERLIN, aus dem dann zwei geworden sind” steht im Titel von Geists großem Buch, 1989 erschienen, da fingen die beiden Berlin doch schon wieder an, eines zu werden; plötzlich war die Geschichte schneller als die Geschichtsschreibung; die Gegenwart überholt die Vergangenheit: eigentlich was ganz Normales; anderswo tut sie das fast immer.
“Wenn man den Wedding von Schwedler”, sagte der Mann, “mit der Friedrichstraße vergleicht …”
Aus dem Vortragssaal der Akademie hinter dem Glasgang, in dem eine kleine Ausstellung über die Friedrichstraße zu sehen ist — gehen Sie da mal hin, liebe Leserin und lieber Leser -, waren wir, eine Handvoll Interessierter, hervorgekommen wie aus einem Kundry-Berg: vergangenheitsbezaubert von den schrägen Strichen des George Grosz, deren politische Bedeutung längst aufgegangen ist in der Kunst der Zeichnung. Eigentlich sieht man auf der berühmten Zeichnung von Grosz gar nicht mehr die Friedrichstraße, sondern nur noch Grosz.
Diese kleine Ausstellung — nun kommen doch Metaphern — liefert eine bunte Brille. Sie zerbricht einem nicht, wenn man mit der S‑Bahn — das tat ich nächsten Tags — hinüberfährt vom Bahnhof Bellevue über die überflüssig werdende Bezirksgrenze zum Bahnhof Friedrichstraße.
Die Glaswände der ungleichen Akkolade-Hallen schwingen für den, der noch die Grosz-Zeichnung vor Augen hat, noch lichter aus den Renovierungsgerüsten hervor oder hängen herab, als sie es schon in Wirklichkeit tun: ein praller Ankündigungseffekt, man erwartet viel. Vorläufig endet der Hoch-Bahnsteig aber noch in einem Bohlenplateau. Auf dem Holz, das den Schritt verdumpft, steht man dann über der Friedrichstraße. Die S‑Bahn-Gleise und südlich die neuen betonierten Fern- und Regionalbahnschienen biegen sich in nordwärtiger Schwingung nach Osten zusammen, den Bohlenplatz dabei dreieckig verengend, hindurch zwischen dem Berliner Dom rechts und links dem Fernsehturm, mitten durchs Museum, wie wir wissen, man sieht es von hier aus nicht. Dreimal hintereinander, sich kulissenhaft zu den Tempelhofer Höhen erhebend, durchqueren die westöstlichen Straßen den Nord-Süd-Boulevard, der dem Bahnhof den Namen gibt, weil er ihn teilt in einen Oranienburger Norden und einen dorotheenfriedrichstädtischen Süden. Das Südbild der Friedrichstraße sieht sich schon wieder recht ähnlich.
Was? Gibt es ein Vorbild? Die akademische Grosz-Zeichnung ja nicht, auch nicht die Postkartenviews, aus denen er sie zusammengesetzt, ineinandergeschoben und im “Grimm des Betrogenwordenseins” mit dem Pandämonium seiner Figuren bevölkert hat, die mit der Nachkriegswirklichkeit Nummer 1 abrechnen. Auch die Nachkriegswirklichkeit Nummer 2 haben wir längst hinter uns und auch die Untergrundvergangenheit des Bahnhofs, in deren Gegenwart wir hier auftauchten von derselben Stadt in dieselbe, als ob es tatsächlich zwei Städte gewesen wären, die eine stellte die andere manchmal sogar als inhaltslose weiße Fläche dar. Aber — wie wir vom hundertjährigen Bert wissen von der anderen Seite der Spree — die Geschichte macht vielleicht reinen Tisch (und auch das stimmt ja nicht), aber sie scheut den leeren. Während ich vom Holzbohlenbahnsteig, um den herum gerade der Weltstadtverkehr chaotisch zusammenbricht, in die Friedrichstraße hinabblicke, wird mir klar, dass ich mich an ein Ost-West-Achsen-Bild erinnere, die Himmelsrichtungen gedanklich verdrehe wie Grosz, der die Straße und den Bahnhof übereinander türmt wie den Turm zu Babel, der von oben herunter zusammenbricht. Da biegt die kanariengelbe Tram nach Heinersdorf kreischend aus der Dorotheenstraße ein, sie hat es ein paar Meter großstädtisch eilig und kann auf nichts achten, dann macht sie gewerkschaftlich Pause an der Straßeninsel vor der Bahnbrücke, der Fahrer — denke ich mir — wickelt das Butterbrot aus und holt die BILD-Zeitung hervor, die die Schrecklichkeiten wohlig zusammenfasst und die Befindlichkeiten von Klinsmann schildert und ob Matthäus sie kommentiert. Die Stadt ist keine graue Leiche mehr, sie restauriert sich, die Enkelin erkennt sich in den Bildern der Oma. Am Wedding, in der Akademie und in der Friedrichstraße.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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