Frühherbst im Paradies

Der Weg ins Para­dies beginnt auf dem S‑Bahnhof Halen­see, S45, Ausstei­gen Bahn­hof Grün­berg­al­lee, dessen Bahn­steig sich weit hinstreckt. An seinem östli­chen Ende schwingt sich eine Fußgän­ger­brü­cke über die Gleise; von oben sieht man den Flug­ha­fen Schö­ne­feld: wenigs­tens die Flug­zeuge, die aus dem Grün hervor­stei­gen, als seien sie auf dem Weg in andere Welten. Wenn man dann die Grün­berg­al­lee selbst gefun­den, die brül­lende Auto­straße über­quert und am Baustoff-Zentrum vorüber ist, kann man sich immer noch nicht vorstel­len, dass das der Weg zum Para­dies ist. Es ist ein Kolo­nie- und Datschen-Weg, rechts und links der Autos, die über den Asphalt schnor­ren, entfal­ten sich Garten­lieb­schaf­ten, kleine Wiesen, Blumen, Sträu­cher, Hunde aus Leben und aus Porzel­lan. Auch die Porzel­lan-Hunde sind Leben. Die sie aufge­stellt haben, freuen sich an ihnen. Wo sich jemand freut, entschei­den nicht ästhe­ti­sche Kate­go­rien darüber, ob man sich mitfreuen soll. Von den Kasta­nien fallen die Kasta­nien. Nur ein einzi­ges Mal trete ich fußbal­le­risch nach einer von ihnen, dass sie über die Straße springt; dann kommt mir das roh vor.
Über eine gefähr­li­che Stra­ßen­ab­bie­gung errei­che ich den Dorf­platz. Das Dorf fehlt. Aber dann ist es links und rechts doch da. Mehrere Arzt­pra­xen in den denk­mal­ge­schütz­ten Ex-Dorf­häu­sern, hinter denen sich Scheu­nen­höfe erstre­cken mit Tauben­häu­sern. Oben ein Spezia­list für Flug­me­di­zin, unten einer. Behan­deln sie viel­leicht den Flug­lärm? Der Auto­lärm ist schlim­mer. Hinter dem Weiher liegt die Kirche inmit­ten der Auto­stra­ßen wie hinter Wassern, die man durch­que­ren müsste. Dicht daran die Auto­hoch­straße, die über die Grün­berg­al­lee gerade an der Stelle hinweg­führt, wo sie sich umnennt in Bunt­zel­straße nach einem Garten­bau­meis­ter. Das also ist das Tor zum Para­dies.

Von da ab ist es nicht mehr weit. Die Sied­lung Para­dies beginnt an der Ecke Bunt­zel-/Para­dies­straße. Die gieb­li­gen, fach­werk­li­chen Fünf­fa­mi­li­en­häu­ser machen den ersten Bauteil des “Para­die­ses” aus; 1905 bis 1908 gebaut von der Arbei­ter­bau­ge­nos­sen­schaft Para­dies, “um wirt­schaft­lich Schwa­chen ein menschen­wür­di­ges Heim zu schaf­fen”. 1908 — das ist das Geburts­jahr meiner Mutter, die — 90 Jahre alt — diesen Text nun in Bad Schwar­tau lesen wird, wo sie lebt und auf Wald schaut; es gibt mehr Bäume in ihren Tagen als Menschen. Ich könnte ihr Leben beschrei­ben, um die Wirrun­gen aufzu­zäh­len, die dieses zu Ende gehende Jahr­hun­dert seit dem Beginn des Para­die­ses gebo­ten hat. Über­all Zerstö­run­gen, auch im Para­dies.
Der zweite Bauteil dieses offe­nen Archi­tek­tur­mu­se­ums war 1914 fertig. Da muss­ten auch aus dem Para­dies manche Männer hinaus­zie­hen, jubel­ten mit Blumen im Gewehr, ehe sie morde­ten und sich ermor­den ließen. Wenn ich “Mord” sage — das weiß ich schon -, wird es einige geben, die sich empö­ren wollen. Mit den begü­ti­gen­den Worten verwehr­ten wir uns aber den Zugang zu einer Gegen­wart, in der der Name Para­dies für ein Ensem­ble von Häusern und Gärten nicht zynisch klingt.

Ich gehe von der Bunt­zel­straße, an der braven Linden­schule vorüber ein Stück Dahme­straße, dann Leschnit­zer, Pitsche­ner, Hunds­fel­der, Polk­wit­zer Straße (das Para­dies heißt nach schle­si­schen, polni­schen Orten); Sieb­weg, Quarit­zer Straße zurück zu der Mittel­straße, die sich vom Para­dies sogar den eige­nen Namen geborgt hat. Das ist mein Weg durchs Para­dies.
Die ersten Nach­kriegs­bau­ten 1919/1920 sind von Fritz Oertel: Neoklas­sik, steht in den Büchern. Da ist was dran. Diese Ein- und Mehr­fa­mi­lien-Häuser und erst recht die Bauten vom Meis­ter Bruno Taut, 1925 bis 1927 an Dahme­straße, Leschnit­zer, Hunds­fel­der, Sieb­weg und drum­herum, kann man klas­sisch nennen.
Zwischen den Stra­ßen findet der Aufmerk­same und der Kenner schmale “Privat­wege”, Betre­ten auf eigene Gefahr, darauf soll er’s ankom­men lassen. Versteckt in einem solchen Weg beob­ach­tete Emil Greu­lich, der recht­zei­tig geflo­hen war, wie 1933, am Tag nach dem Reichs­tags­brand, die Über­fall­wa­gen krei­schend vorfuh­ren bei “Klemms Eck”, Quarit­zer-/Ecke Para­dies­straße, und die Genos­sen abhol­ten: KZ Bran­den­burg, dann Moor­la­ger Ester­wege, “wir sind die Moor­sol­da­ten…”

Der Auto­lärm liegt hinter mir. Ich höre die Vögel zwit­schern, ich kann dem Gesang der Blät­ter zuhö­ren.
In der Mitte der Hunds­fel­der Straße Eber­eschen im Beeren­schmuck, rot, hohe Robi­nien; die Stra­ßen­fron­ten der Taut-Häuser über den rosa­far­be­nen Türen in einem fast golde­nen rauhen Gelb­putz … wie gesagt: klas­sisch. Die Stra­ßen­ecke Hundsfelder/Pitschener ist sehens­wert (andere Stra­ßen­ecken hier auch); die alte Weide war schon da, als Taut hier anfing (bilde ich mir ein). Die Pitsche­ner Straße schwingt sich mit einer klei­nen Ausbuch­tung in der Mitte nach Westen zwischen den alten Holz­zäu­nen im abblät­tern­den Grün. Diese Zäune müsste man unter Denk­mals­schutz stel­len, denke ich; aber ich bin ja über­haupt nicht für Denk­mals­schutz, behörd­li­che Regis­ter erhal­ten nichts, die Geschichte der Stadt gehört nicht in die Verwal­tung der Büro­kra­ten.
So errei­che ich wieder die Para­dies­straße, durch die ich das Para­dies nun verlasse. Die Straße führt mich mit andau­ern­dem Himmels­na­men bis zum S‑Bahnhof Altglie­ni­cke, vorbei am herbst­li­chen Brach­feld, auf dem das Blumen-Gelb jetzt lang­sam im Schwarz­braun verschwin­det: die Farbig­keit des Abschieds, nach­dem der Sommer schön war. Während ich auf die S‑Bahn warte, hat sich eine Heuschre­cke auf meiner Jacke nieder­ge­las­sen, ich schnippe sie vom Revers, denke aber gleich, dass das Unglück bringt, so dass ich sie auf den Bahn­steig­plat­ten anspre­che: Na, kleine Grille, klei­ner Gras­hüp­fer … aber nun will sie mich nicht mehr. Jeder Sommer war schön, den wir auf beiden Beinen erleb­ten.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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