Schwarz oder weiß

Die Fahrt nach Marzahn dauert von meinem Büro an der Möckern­brü­cke unge­fähr eine halbe Stunde. Also ist das Wort “Fahrt” rich­tig, “Reise” wäre über­trie­ben. Die Zeit verläuft aber nicht auf einer einzi­gen Ebene. Sie hat undichte Stel­len, da fällt man leicht durch; das passiert mir später.
Auf der Zeit-Fläche, auf der die S7 fährt, lernte ich an diesem Dezem­ber-Nach­mit­tag von zwei taffen Berli­ne­rin­nen mir gegen­über folgen­des:
“Zehn Finger, zehn Ringe, damit keener sagen kann: Warum ich nich?”
Und sie hält die zehn Ringe an ihren zehn Fingern hoch, als ob sie mich über­zeu­gen wollte. Dann:
“Wenn du die Kosten des Roochens berech­nest, denn mussde ooch allet halbe Jahr die Kosten von der Zahn­stein­ent­fer­nung rech­nen.” Sie blickt mich an, als ob sie zu mir gespro­chen hätte. Drit­ter Teil: Urlaubs­über­le­gun­gen:
“Türkei geht nich. Nich wegen der Türken, sondern wegen dem Hund. Gegen das Flug­zeuch hat er zwar nüscht, aber dett Körb­chen, wo er da rinn muss, dett nich!” Trium­phie­rend blickt die Lebhafte mich an, als ob ich nun endlich zuge­ben sollte, dass ich zuge­hört habe: “Stimmt! So iss ett!” oder so.

Sie stei­gen auch am Bahn­hof Marzahn aus. Aber sie laufen in dersel­ben Zeit weiter über die Fußgän­ger­brü­cke und blicken noch zurück, als sie bemer­ken, dass ich nach der “falschen” Seite aussteige. Als ich drüben bin — auf der west­li­chen Bahn­hof­seite, Wiesen­bur­ger Weg, dem sie ruhig den Namen Bahn­hof­straße hätten lassen können, den er bis 1938 geführt hat — steigt schon das Gefühl einer ande­ren Zeit in mir auf. Marzahn liegt drüben, auf der ande­ren Seite der Schie­nen, die Hoch­häu­ser hinten zeigen in verschie­de­nen Blau- und Gelb­tö­nen mit Rot neuer­dings grafi­sches Gesicht. Die Stadt scheint von hier drüben älter, als sie ist. Wie beschaf­fen sind die Seelen, die hier gebo­ren und gewach­sen sind? Sie sind jeden­falls noch ziem­lich jung. Trotz­dem habe ich den Eindruck, die “Wohn­ge­biet I, II, III-Seele” ist eine typi­sche Berlin-Seele (wie die Gropi­us­stadt-Seele, wie die Märki­sche-Vier­tel-Seele, wie die Fennpfuhl-Seele: die Metro­pole wohnt an ihren Gren­zen). In der Märki­schen Allee (zum Beispiel hier) ist dich­te­res Berlin als … soll ich sagen: am Pari­ser Platz? Welche Gehirne bilden sich (denn Seele — das ist doch nicht mal die Hälfte), wenn man täglich einmal hin‑, einmal her, auf den Sitzen der S7 sitzt und im schnell einfal­len­den Winter­dun­kel oder an einem weichen Sommer­abend, wenn der Ligus­ter blüht, in seine Wohnung geht, sagen wir: Märki­sche Allee 192? Aus dem hohen Fens­ter kann man in eine andere Zeit sehen. Auf dem Park­fried­hof, der von der auto­r­ei­chen Märki­schen Allee her einfach nach Wald aussieht, Gehölz, stehen vier Brun­nen; Brun­nen der Vergan­gen­heit; Thomas Mann, der hier niemals war, sagt, dass die Brun­nen der Vergan­gen­heit tief sind; so tief sind sie gar nicht. In Wirk­lich­keit sind es vier Denk­mä­ler, für Anti­fa­schis­ten, für Bomben­op­fer, für Sowjet­sol­da­ten, für Sinti, Roma. Ein Stück nörd­lich dieses Fried­hofs lag das “Zigeu­ner­zwangs­la­ger”, von dem es direkt nach Ausch­witz ging für diese Mitbür­ger, denen niemand neben dem Bran­den­bur­ger Tor ein Mahn­mal errich­ten will.

Die Fußgän­ger­brü­cke vom S‑Bahnhof Marzahn sieht von dieser Seite fast außer­ir­disch aus: wie etwas Gelan­de­tes. In der Back­stein­mauer sind runde Fens­ter, durch die man nichts sieht. Eine kleine Stahl­tür ist offen, aber ich benutze sie nicht, sondern gehe den Wiesen­bur­ger Weg zu Ende, er geht in einen Asphalt­weg über, dann in einen Tram­pel­pfad unter wilden Birken, der ille­gi­tim wirkt; neben dem östli­chen Pfört­ner­haus an vergit­ter­ter Tür kommt man auf die Straße, die hier unten, unter der Lands­ber­ger Allee, auch Lands­ber­ger Allee heißt. Da sieht man die ganze Anlage. Auf den blau-weißen Fahnen steht Knorr Bremse, auf dem vorra­gen­den Mittel­stück der rotbrau­nen Back­stein­front steht Hasse & Wrede; das ist eine Toch­ter­firma der Knorr Bremse GmbH. Das Ganze sieht aus wie ein Lager, wie ein Kastell, man kann aber auch sagen: wie die Neue Reichs­kanz­lei, die es nicht mehr gibt; ich habe sie als Kind zwar gese­hen, aber habe über­haupt keine selbst­ge­machte Erin­ne­rung daran: was ich also jetzt fühle, das kommt aus Büchern.
Das Gebiet, auf das ich hier blicke, ist das “Indus­trie­ge­biet 15 der Gene­ral­bau­in­spek­tion” (G.B.I). Die G.B.I. am Pari­ser Platz, in der Akade­mie — das war die Behörde des Kriegs­ver­bre­chers Profes­sor Albert Speer. Und dieses rot-ziege­lige Gebäude hier im Nord­os­ten ist ein Erzeug­nis dieser Zerstö­rungs­be­hörde: 1941/42 eine Rüstungs­fa­brik: einzieh­bare Fahr­werke für Kampf­flug­zeuge, Panzer­ge­triebe, Granat­wer­fer, Zünder: “Systeme” würde man heute viel­leicht sagen, Systeme für Nutz- und Schie­nen-fahr­zeuge. Das Gebäude sieht modern aus, hätte es anders ausge­se­hen, wenn Walter Gropius und Mies van der Rohe es entwor­fen hätten, die sich ja Hitler auch ange­bo­ten hatten, er wollte sie aber nicht.

Ich stehe auf der Marzah­ner Brücke. Die erste Stra­ßen­bahn rauscht vorüber, ich habe mich nicht deut­lich genug bemerk­bar gemacht. Ich blicke über den schö­nen Speer-Bau auf den Fried­hof, wo auch solche begra­ben sind, die mitge­hol­fen haben, das Land von dem mörde­ri­schen Gene­ral­bau­in­spek­tor zu befreien. Sein Abtei­lungs­lei­ter für die “Südstadt” und für das “Ostge­biet”, als das man sich diese Gegend hier vorstel­len kann, hieß Hans Stephan. Nach­dem Hitler, Speer, der G.B.l. erle­digt waren, u. a. — wie gesagt — von den Toten dort hinten, machte sich dieser Hans Stephan daran, die West­ber­li­ner Bauver­wal­tung aufzu­bauen und plante weiter wie für den Kriegs­ver­bre­cher auch, von 1956 bis 1959 war er unter der SPD-Regie­rung Senats­bau­di­rek­tor. Speers Verwal­tungs­chef, den man u.a. einen Nutz­nie­ßer der Juden­de­por­ta­tio­nen nennen kann, der Profes­sor Karl Maria Hett­lage war von 1959 an Staats­se­kre­tär für Finan­zen in der Regie­rung Adenauer; er hat sich um die Finanz­ver­fas­sung der Bundes­re­pu­blik verdient gemacht, steht im Lexi­kon.
Von der Tram­bahn­hal­te­stelle gehe ich nord­wärts durch die Märki­sche Allee, die nun nicht mehr nach Hein­rich Rau heißt, immer an den hohen Fassa­den entlang, bis zur Raoul-Wallen­berg-Straße, die nicht mehr nach Bruno Leusch­ner heißt. Vom Perron des S‑Bahnhofs blicke ich auf den Fried­hof der Opfer, für den es jetzt zu spät ist. Die S7 braucht von hier unge­fähr zwan­zig Minu­ten bis zum Ostkreuz; aus dem Fens­ter sehe ich dort das eindrucks­volle Haupt­ge­bäude von Knorr Bremse, gebaut 1913–1916, 1922–1927, Archi­tekt Alfred Gren­an­der, der einer der großen Erbauer des moder­nen Berlin war und ein Ehren­mann.
1995 ist das Gebäude umge­baut worden für die BfA und für Büros. Es hat auch Eck-Türme wie die Fabrik in Marzahn, es besteht eine gewisse archi­tek­to­ni­sche Ähnlich­keit. Auch die Verbre­cher und ihre Helfer stehen in Tradi­tio­nen; die Geschichte wertet nicht.
“Nichts ist einfach schwarz oder weiß”, hat jener Hett­lage gesagt, damit — wie es geschah — in den Lexika seine Verdienste genannt und seine Unta­ten verschwie­gen werden. Sollte er Recht haben?

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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