Endlich war ich dem Elternhaus entkommen, auch gleich raus aus der eisigen Mauerstadt. Meine Reise in die Welt ging erstmal nach Braunschweig. Damals war die Stadt für Tramper wichtig, weil sie ein guter Anschlusspunkt für Reisen zwischen West-Berlin und dem nördlichen und mittleren Teil der alten Bundesrepublik war. Hier traf man Leute aus aller Welt, was heute in Braunschweig kaum noch vorstellbar ist.
Auf meinem Schild stand nur “Süden” und tatsächlich bekam ich nach Stunden einen Trip nach Portugal. Sowas war auch an dieser Stelle ein Jackpot — wenn es denn geklappt hätte. Das Studentenpärchen wollte mit seinem alten VW-Bus in fünf Tagen dort sein. Wir verstanden uns prima und ich freute mich auf ein paar warme Wochen, mitten im Winter. Aber wie so oft kam es anders, bei unserem Abstecher nach Freiburg gab das Auto seinen Geist auf. Und zwar ohne Chance darauf, dass es bald weitergehen würde. Mit wenig Geld, aber viel Hoffnung, stellte ich mich wieder an die Straße.
Vor allem im Winter ist das Trampen echt hart. Bei Minusgraden stundenlang zu warten, dass einen jemand mitnimmt, ist nicht schön. Und nicht immer landet man am erhofften oder auch nur am vereinbarten Ort. Es konnte passieren, dass man auf einer einsamen Autobahnausfahrt rausgelassen wurde oder auf einer leeren Landstraße. Im Dunkeln kann man das Trampen dann vergessen, kein Bauer nimmt einen dann mit. Höchstens mal Leute beiderlei Geschlechts, die sich vom Tramper ein kurzes Sexabenteuer erhoffen. Wenn man darauf nicht einging, konnte man auch schnell wieder rausgeschmissen werden. Mir ist das mehrere Male passiert.
In Freiburg bekam ich einen Lift nach Bayern, von dort wollte ich nun über Österreich nach Italien. In diesem Winter hatte ich mein Zelt manchmal mitten im Schnee aufgebaut. Auch in dieser Nacht suchte ich mir wieder einen Platz zum Schlafen. Ich fand ihn nahe der Autobahn, es sah aus wie ein Park, und es war ziemlich duster. Nur der helle Schnee machte es möglich, dass ich mein Zelt noch irgendwie aufgebaut bekam.
Als ich am nächsten Morgen raus kroch, war ich erstmal perplex: Keine 50 Meter weiter stand ein mehrstöckiges Bürohaus, das ich in der Nacht überhaupt nicht bemerkt hatte. In immer mehr Fenstern tauchten die Köpfe der neugierigen Angestellten auf, einige winkten mir sogar zu, ich war eine richtige Attraktion. Blöd, wenn man nach dem Aufstehen erstmal pinkeln muss, aber zig Augen einen beobachten.
Kurz danach kam der Pförtner zu mir, in der Hand ein Tablett mit belegten Brötchen und heißem Kakao: “Wenn es nicht reicht, können Sie sich auch noch mehr holen.” Ich wünschte mir, jeden Tag so aufzuwachen!
Normalerweise braucht man unterwegs nicht viel Geld. Aber auch wenig ist irgendwann alle und dann gibt es drei Möglichkeiten: Klauen, betteln oder verdienen. Mit Klauen kann man mal einen Hunger kurzfristig stillen, aber auf Dauer ist das nichts. Gebettelt habe ich nicht gerne, höchstens mal nach übrig gebliebenem Obst oder Brot, wenn abends ein Markt geschlossen wurde. Dafür habe ich aber auf vielerlei Arten etwas Geld verdient, mit Hiwi-Arbeiten für ein Mittagessen, Bauern bei der Ernte geholfen oder für 10 Mark ein Lokal sauber gemacht.
Das alles ist schwieriger, wenn man die Sprache nicht spricht. So erging es mir, als ich dann irgendwann doch noch im Süden ankam. Milano war nicht eben mein Traumziel, aber nun war ich erst mal dort gelandet. Es war schon wieder dunkel und genauso kalt wie in Bayern. Meine Fahrerin hatte mich am Stadtrand rausgelassen und ich musste in die City laufen. Geld hatte ich nicht mehr und der Weg war echt lang. Obwohl ich mitten in der Nacht ankam, war am weißen Hauptbahnhof noch eine Menge los. Die Halle war zwar eiskalt, trotzdem standen noch mindestens 50 Leute herum. Es war mir nicht gleich klar, was hier ablief. Hatten die alle ihren Zug verpasst? Waren es Drogendealer? Oder gut gekleidete Obdachlose? Als mich der erste Mann ansprach, verstand ich langsam. Hier schlichen nämlich fast nur Männer herum, die auf der Suche nach einem Sexpartner waren.
Immer wieder kamen Jungs in die Halle, die sofort angesprochen wurden und meist sind sie sofort zusammen verschwunden. Und obwohl ich mit meinem Rucksack eindeutig als Tourist zu erkennen war, wurde ich noch etwa drei, vier Mal von jemandem angesprochen. Aber mit keinem von denen hätte ich mitgehen wollen. Mit der Zeit kapierten die Freier wohl, dass ich nicht zu den Strichern gehörte, auch wenn ich jung war. Sie ließen mich in Ruhe. Dabei hatte ich in Berlin schon durchaus Erfahrungen in dem Gewerbe gemacht. Aber jetzt wollte ich es nicht.
Ich stand am Rand und überlegte, ob ich hier meinen Schlafsack auslegen sollte und mich ein paar Stunden hinlegen. Einige andere lagen schon dort in einer Ecke, ich kannte das bereits aus dem Gare du Nord in Paris. Irgendwann morgens würde dann die Polizei kommen und uns verscheuchen, bevor die Rush Hour beginnt. Stattdessen blieb ich noch stehen, schaute mir die Bahnhofshalle und das nächtliche Treiben an. Mir kam dann der Gedanke, dass ich ja vielleicht einen etwas weniger unangenehmen Mann finden könnte, um dann bei ihm zu schlafen. Das ist natürlich mit etwas Risiko verbunden, weil ich die Leute hier aufgrund der mir fremden Sprache schlechter einschätzen konnte, als in Deutschland. Trotzdem ließ ich es darauf ankommen. Meinen Rucksack hatte ich neben mich gestellt, die Hände in den Hosentaschen, ließ ich meinen Blick über die Männer schweifen, die sich in der Halle herumdrückten. Schnell fiel mir einer auf, der recht sympathisch aussah: Circa zehn Jahre älter als ich, lange schwarze Haare, schlank, mit extrem engen Jeanshosen. Ich war nicht mal sicher, ob er nicht eventuell selbst auf den Strich ging. Andererseits wurde er zweimal von Männern angebaggert, ließ die aber abblitzen.
Erst nach einigen Minuten bemerkte er meinen Blick. Er schaute zurück, lächelte, ich ebenfalls, alles klar. Natürlich war ich total aufgeregt, als er auf mich zu kam. Er konnte ein bisschen Deutsch, stellte sich dann vor mich, so dass niemand von außen etwas sehen konnte. Dann rieb er mir an der Hose herum, um mich geil zu machen, und drückte meine Hand auf seine Hose. Er nahm mich mit auf die Toilette, wo wir sehr kurzen, aber schönen Sex hatten. Zum Abschluss gab er mir einen Kuss auf die Wange und verschwand wieder.
Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt, ich hatte nun immer noch kein Bett. Etwas frustriert stellte ich mich wieder in die Bahnhofshalle. Und am Ende ging ich dann doch mit einem Freier mit, den ich zwar überhaupt nicht anziehend fand, der mir aber wenigstens Geld gab und mich bei sich schlafen ließ.
Es war nicht die letzte Nacht in einer kalten Bahnhofshalle. Diese Erfahrungen gehören aber mit zu denen, die man eben macht, wenn man auf Trebe ist. Sie sind nicht so schlimm, jedenfalls im Nachhinein. Ich habe danach noch viele andere Jobs gemacht, die ätzender und wesentlich schlechter bezahlt waren. Wenn man frei sein will, muss man auch offen sein. Neues ausprobieren gehört dazu, und herauszufinden, was eigentlich der eigene Weg ist. Oder sein könnte. Das macht ein Tramperherz aus!
ANDI 80
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