Kapo im Sägewerk

Es begab sich aber zu der Zeit, als die Mauer noch stand und ich ein gar umtrie­bi­ger Jüng­ling war. Es hatte mich in eine Stadt verschla­gen, in der niemand Deutsch spre­chen konnte: Stutt­gart.

Mitten im Ort gab es ein Säge­werk, dazu gehörte ein mehr­stö­cki­ges Lager­haus. Als Unge­lern­ter hätte ich dort eigent­lich nur Aushilfs­ar­bei­ten machen dürfen. Der Chef aber nahm mich schon am zwei­ten Tag zur Seite und meinte, wir Deut­schen müss­ten doch zusam­men­hal­ten. Ich weiß nicht, ob er ein Rassist war oder was sonst seine Beweg­gründe waren. Jeden­falls waren die ande­ren Arbei­ter fast alles Italie­ner, und deshalb sollte ich der “Kapo” sein. Kapo ist sowas wie ein Vorar­bei­ter. Aber auch die KZ-Poli­zis­ten wurden so genannt — Gefan­gene, die die ande­ren über­wa­chen soll­ten. Wie passend.

Zwar waren wir nicht gefan­gen, fast alle aber wohn­ten auf dem Gelände in einem extra Wohn­heim. Wohl auch, weil der Chef da alle unter Kontrolle hatte. Ich sollte in eine Wohnung eben­falls auf dem Gelände einzie­hen, wollte aber nicht so direkt bei der Firma wohnen. Also blieb ich in meinem Zelt auf dem Camping­platz von Cannstatt und fuhr jeden Morgen zum Säge­werk.

Von den Kolle­gen wurde ich anfangs miss­trau­isch beob­ach­tet, sie ahnten schon, wieso der Chef mich einge­stellt hatte. Aber sie merk­ten auch schnell, dass ich nicht den Spit­zel für ihn machte. So waren wir schon nach weni­gen Tagen verbrü­dert. Abends koch­ten wir gemein­sam und sie brach­ten mir italie­ni­sche Arbei­ter­kampf­lie­der bei. Da ich vorher schon einige Zeit in ihrer Heimat gewe­sen bin, konnte ich bereits ein biss­chen italie­nisch.
Von manchen Liedern kannte ich auch den deut­schen Text und so sangen wir gemein­sam “Wir sind das Bauvolk”, “Bandiera rossa” und die Inter­na­tio­nale, gleich­zei­tig in zwei Spra­chen! Es waren schöne Abende, an denen ich dann auch dort schlief.

Tags­über machte ich die glei­che Arbeit wie die Kolle­gen: Bäume in die Säge wuch­ten, Furniere schnei­den, die Plat­ten und Bret­ter bündeln. Drei Kubik­me­ter große Klaf­ter wurden mit einem Kran im Lager­haus bis zum vier­ten Stock nach oben gehieft. Die einzel­nen Etagen hatten große Löcher, durch die die Bündel zum entspre­chen­den Stock­werk hoch­ge­zo­gen wurden. Dabei musste immer jemand auf dem Klaf­ter stehen, um die Balance zu halten, denn das Holz war recht locker und wacke­lig. Das war natür­lich eine gefähr­li­che Arbeit, denn wenn man mit den drei Tonnen schwe­ren Bündeln abge­stürzt wäre, hätte man keine Chance mehr gehabt. Der Chef hatte mir diese Arbeit verbo­ten, aber natür­lich machte ich sie trotz­dem. Wir wech­sel­ten uns damit ab und ich sah gar nicht ein, wieso ich mich nicht der glei­chen Gefahr ausset­zen sollte, wie die Kolle­gen.

Natür­lich kam es irgend­wann zum Streit mit dem Chef, mein jugend­li­ches Rebel­len­tum war sehr ausge­prägt, im Gegen­satz zu meinem Respekt vor seiner Auto­ri­tät. So dauerte mein Aufent­halt dort nur einige Wochen. Am Abend meines letz­ten Arbeits­ta­ges hatten die Kolle­gen mich einge­la­den. Wir mach­ten zusam­men noch­mal ein großes Essen und ich war trau­rig, diese Gemein­schaft verlas­sen zu müssen. Aber diese Erfah­rung hat mich bis heute geprägt, was Dinge wie Soli­da­ri­tät und Klas­sen­be­wusst­sein betrifft. Beides ist ja heute nicht mehr sehr modern.

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