Bericht aus der Bombennacht

Gerda Deckwardt, Postbotin in Berlin

Eine Post­bo­tin hat 1943 notiert, was sie im Krieg erlebte. Ihr Text wirkt beklem­mend aktu­ell

Als Über­schrift auf dem vergilb­ten Schreib­ma­schi­nen­blatt steht: „Berlin, den 23. Novem­ber 1943, Angriffs­tag. Mein eige­nes Erleb­nis“. Die Buch­sta­ben sind verblasst, ein Holz­wurm hat sich durchs Papier genagt. Gleich darun­ter beginnt der Text:

„Ich hatte einen schwe­ren Arbeits­tag hinter mir“, heißt es, „und nun saß ich wie an jedem Abend vor meinem klei­nen Radio­ge­rät, um die Sendun­gen des Auslan­des anzu­hö­ren. Somit war ich immer auf dem Laufen­den, was in der Welt geschah, und was gesche­hen konnte. Eigent­lich war ich mäch­tig müde, aber wer konnte hier seit Wochen an Schla­fen­ge­hen denken, wo Tag für Tag die Alarm­si­re­nen heul­ten, und Tag für Tag die Menschen ärmer und ärmer wurden.“

Aufge­schrie­ben hat dies Gerda Deck­wardt, die beinahe verges­sene alte Dame, die vor mir hier in der Nostitz­straße in Berlin-Kreuz­berg wohnte. Vor mitt­ler­weile über drei Jahr­zehn­ten zog ich in ihre Wohnung ein – und in ihr Leben. Alles war noch da, Klei­dung, Bücher, Medi­ka­mente, ein letz­tes Früh­stück stand auf dem Küchen­tisch.

Erst jetzt jedoch, vor weni­gen Wochen, kam – sonder­bar schick­sal­haft, fast wie gewollt – das Schreib­ma­schi­nen­blatt zum Vorschein, in einer Zeit, in der deut­sche Indus­trie und Poli­tik Krieg erneut als Option sehen. Wer warnt und Frie­den fordert, wird allzu schnell öffent­lich denun­ziert.

Umschlag im Nähkäst­chen

Sorg­sam in einen vergilb­ten Umschlag gefal­tet, verbarg sich Gerdas Nach­richt unter Nadeln, Knöp­fen, Zwirn ganz unten in ihrem Nähkäst­chen. Die Worte erschei­nen wie ein Finger­zeig.

„Kaum war es neun Uhr, als die Alarm­si­re­nen heul­ten und ich mich beei­len musste, mein klei­nes Radio­ge­rät einzu­pa­cken, denn das tat ich jeden Tag zur selben Stunde, da ich ohne Radio gar nicht sein konnte. Ich rannte förm­lich die vier Trep­pen aus meiner Wohnung herun­ter und suchte einen soge­nann­ten Luft­schutz­kel­ler auf. Der Keller lag unter einem abge­brann­ten Haus, war aber am ehes­ten erreich­bar von meinem Heim aus.

Schreck­li­che Gedan­ken, in solch einem Loch aushal­ten zu müssen, während die Herren, die den Krieg mach­ten, in der Nähe hier die best­ge­si­cher­ten Keller einnah­men. Ich weiß nur, dass mich so die Wut darum packte, dass ich, gleich im Keller ange­kom­men, vor allen Menschen tobte, dass es uns so gehen muss, nur weil die Deut­schen so zänkisch und so verkom­men seien. Oftmals ist es mir wegen dieses Aufre­gens beinahe schlecht ergan­gen, aber dessen unge­ach­tet habe ich nie aufhö­ren können, mich zu empö­ren.“

Und weiter schreibt sie, „plötz­lich aber kam Stille um uns herum. Drau­ßen tobten die Bomber und die Wäch­ter teil­ten uns mit, dass hier alles herum ein Flam­men­meer sei. Brand­bom­ben ohne Zahl waren herun­ter­ge­kom­men. Alles schrie wild durch­ein­an­der, alte Frauen wein­ten, weil sie seit Langem schon keine Hoff­nung mehr hatten. Drei Stun­den­lang tobten drau­ßen auf der Stadt­mitte die Bomben, doch dann kam die Entwar­nung, wobei alle Menschen aus dem Keller stürm­ten. Die, welche ihre Ange­hö­ri­gen hatten, fass­ten sich bei den Händen.“

1943 war Gerda Deck­warth Brief­trä­ge­rin in Mitte, ihre Wohnung war in der Schüt­zen­straße 14. Auf einem Foto aus der Zeit von ihr in Post­uni­form hat sie Reichs­ad­ler und Haken­kreuz auf ihrer Mütze mit Kugel­schrei­ber über­malt. Auf ande­ren Fotos aus unter­schied­li­chen Lebens­pha­sen wirkt sie als junge Frau verträumt und hoff­nungs­voll, später eher nach­denk­lich, dann intro­ver­tiert, einsam, still. „Tage, an denen ich nur eine Mark als Geld besitze, keine Butter, kein Zipfel Wurst, keine Ziga­rette“, schreibt sie 1962 in ihr Tage­buch.

Mit dem Mauer­bau wurde auch die Schüt­zen­straße 14 erst von Stachel­draht umzäunt, dann abge­ris­sen. Unter­kunft fand sie bei ihrer Mutter hier in der Nostitz­straße. 1991 starb sie, allein, ohne Ange­hö­rige. Sie war 86 Jahre alt. Ein entfern­ter Verwand­ter schlug das Erbe in Anbe­tracht anste­hen­der Bestat­tungs­kos­ten aus. Ich war gerade aus New York gekom­men. „Nehmen sie die Wohnung, so wie sie ist – unge­se­hen!“, hieß es bei der Haus­ver­wal­tung. Mit einem Koffer und dem Schlüs­sel in der Hand zog ich ein. Im Wohn­zim­mer zeig­ten Schat­ten an der Wand, dass Bilder fehl­ten, auf dem Teppich war eine Schmuck­scha­tulle ausge­kippt – ein Nach­lass­ver­wal­ter hatte nach Verwert­ba­rem gesucht. Gerdas Foto­al­bum und Tage­buch lagen am Bett. Das Nähkäst­chen stand am Küchen­tisch. Ich räumte es in den Hänge­bo­den – Nähen ist nicht mein Ding. Erst die Suche nach einem Knopf für die Vintage-Bluse einer Freun­din brachte den Umschlag ans Licht. Aber lassen wir Gerda weiter­erzäh­len:

Ich selbst war ganz allein, denn meinen Mann hatten sie einge­zo­gen in den Krieg, und lange hatte ich schon keine Post mehr. Verbit­tert war mein Herz gegen alles, was den Krieg unter­stützte, und ich drückte meine Finger zu einer Faust zusam­men, und wünschte mir somit, dass ich wenigs­tens mein Heim behal­ten kann. Als ich die Straße betrat, war rings­um­her nichts als ein rotes züngeln­des Feuer. Die Orts­mitte brannte rings­herum, bis weit über den Voror­ten sah man dieses Flam­men­meer.

Ich stürmte die vier Trep­pen bis zu meiner Wohnung herauf, doch auch hier waren die Brand­bom­ben herein­ge­flo­gen und sechs Brand­herde droh­ten Gefahr zu brin­gen. Einige Männer waren schon dabei, zu löschen, und ich selbst schleppte vom Hofe Eimer für Eimer Wasser heran, bis die Herde gelöscht waren. Die Männer verlie­ßen dann meine Wohnung, und ich war allein in meiner Wohnung. Alles war schwarz. Mauer­steine, Holz­stü­cke, Ruß und noch­mals Ruß. Die Über­gar­di­nen waren verbrannt, die Fetzen hingen an der fens­ter­lo­sen Scheibe und pendel­ten hin und her, und ich sah hinaus in die rote leuch­tende Nacht. Die Hitze nahm mehr und mehr zu, ich musste auf meinem Balkon stehen und immer Wasser, nur Wasser auf die zischen­den Mauern spren­gen, damit das Feuer nicht eindrin­gen konnte.

Dann plötz­lich wieder Alarm, hunde­müde, das Herz voller Trau­rig­keit, stürmte ich die Trep­pen wieder herun­ter und hinein in den Keller, und wieder kamen Brand­bom­ben auf Brand­bom­ben vom Himmel herab. Licht war schon längst nicht mehr in den Kellern vorhan­den, nur kleine Kerzen erleuch­te­ten den Raum. Die Wache schreit dann plötz­lich „alle heraus“, der Keller brennt. Und das mitten bei den Angrif­fen. Nun muss­ten wir alle gegen­über in einen Keller. Kein Mensch wollte das wagen, denn die ganze Schüt­zen­straße war hell erleuch­tet durch die Brände, und die Flie­ger zum Grei­fen nahe über uns.

Ach, manch­mal habe ich geglaubt, dass sie ein Herz haben müss­ten, und ich winkte oftmals mit den Händen als Zeichen, dass doch auch wir ihre Freunde seien, im roten Feuer­schein hatte man diese Flam­men aber wohl nie sehen können.

Gerade als auch ich die Fahr­straße über­que­ren wollte, flog so eine Brand­bombe dicht vor mir herab. Glück muss man haben, dachte ich, und ich konnte das wohl behaup­ten, denn als ich ein Endchen wartete, kamen noch mehr solcher Dinger herab. Ich bin dann nicht mehr in den Keller gegan­gen, ich blieb vor dem Hause stehen, stellte mich in Deckung und habe somit den Schluss des Angrif­fabends abge­war­tet. Wenig Menschen haben miter­lebt, wie die Ärms­ten der Armen wimmer­ten um ihr Heim, um ihre letzte Habe. Manche trös­tete ich, indem ich sagte, lassen Sie nur, es dauert ja nicht mehr lange. Aber was war schon ein Trost gegen dieses Leid.“

Der Angriff der Alli­ier­ten in der Nacht vom 22. auf den 23. Novem­ber 1943 war einer der schwers­ten, die Berlin erlebte. Zerstört wurden große Teile von Char­lot­ten­burg, Schö­ne­berg, Mitte sowie auch KaDeWe, Gedächt­nis­kir­che, Zoo, Ufa-Palast, Tell-Halaf-Museum und Neue Synagoge. Wind und Trocken­heit entfach­ten diverse Feuer­stürme. Mehrere Tausend Menschen star­ben in der Nacht, Hundert­tau­sende wurden obdach­los.

„Wieder in meiner Wohnung ange­kom­men, fand ich die Küche bren­nend vor. Wieder war ich allein, aber ich besaß die Kraft zu löschen“, fährt Gerda fort. „So lösch­ten wir in unse­rem Hause noch andere Brände und das ging bis zum Morgen um sieben Uhr weiter. Völlig verdreckt, zum Umsin­ken ermü­det warf ich mich dann zwischen die Klamot­ten in meiner Wohnung, um ein biss­chen zu schla­fen. Der Brand­ge­ruch und die Hitze hüll­ten mich ein, und ich schlief dann zwei Stun­den lang, nicht wie eine Dame, nein, rich­tig wie ein Tier.“

Erhal­ten sind auch andere Augen­zeu­gen­be­richte – von dieser, wie von ande­ren Bomben­näch­ten –, erschre­ckend aller­dings ist die Regime­treue. In so gut wie allen, so zeigen Auswer­tun­gen, fehlt es an jegli­cher Kritik, Selbst­zwei­fel oder gar Schuld­zu­wei­sung, manche enden mit „Heil Hitler!“. Gerdas Bericht ist völlig anders. Er zeigt, dass sie, die einfa­che Berli­ner Post­bo­tin, ihren Gehor­sam selbst in einer Zeit schlimms­ten Unrechts, Lüge, Angst und Propa­ganda inner­lich strikt verwei­gert hat.

Eine deut­li­che Warnung

Vor ihrem Tod zum letz­ten Mal gese­hen habe man sie, hat mir eine Nach­ba­rin erzählt, als sie bei einem Fest hier im Hof im zwei­ten Stock am offe­nen Küchen­fens­ter stand und auf ihrer Zieh­har­mo­nika spielte. Trep­pen konnte sie nicht mehr laufen. Ihre Bestat­tung auf einem der Fried­höfe an der Berg­mann­straße war ein Armen­be­gräb­nis. Ihr Grab ist längst verschwun­den. Für uns aber hinter­las­sen hat sie eine klare Botschaft. Und ja, liebe Gerda – wir hören dich, wir hören deine Warnung! Hier ihre letz­ten Sätze zum Erleb­ten:

„Am ande­ren Mittag habe ich nach Dienst­schluss meine Umge­bung näher bese­hen, aber was man vorfand, war alles trost­los. Doch meine größte Freude war, dass die Bomben dies­mal auch das Rich­tige getrof­fen hatten. Nämlich die Häuser jener, die den Krieg mach­ten. Der 23. Novem­ber brachte großes Leid unter die Armen des Berlins, und doch einen Tag näher der Befrei­ung. Unver­gess­lich ist in meinem Herzen dieser große Feuer­schein, der über Berlin lag, geblie­ben – nur so kann die Hölle sein!“

Stefan Elfen­bein

(Elfen­bein ist Ameri­ka­ner und Deut­scher, er lebt in New York und Berlin. Von 1997 bis 2001 war er USA-Korre­spon­dent der Berli­ner Zeitung.)

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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