Marshall, Bersarin

Unter unse­ren Füßen, vor unse­ren Augen, verän­dert sich die Stadt. Wir wissen gar nicht mehr, wie sie zuvor war, als ob wir unser eige­nes Leben verges­sen hätten. Wir verges­sen ja unser eige­nes Leben. Die Lust auf Gegen­wart ist auf exis­ten­ti­elle Weise stär­ker als die Lust auf Vergan­gen­heit, die demge­gen­über gar keine Lust, sondern nur ein Inter­esse, ein intel­lek­tu­el­les Hobby scheint.
Mein heuti­ger Stadt­gang hat in meinem Büro am Tempel­ho­fer Ufer begon­nen: Ich gehe ein Stück den Land­wehr­ka­nal west­wärts, am Nord­ufer entlang; kleine Birken, Linden, Plata­nen, Buchen, Weiden, roter Hart­rie­gel, Berbe­ritze tren­nen den Spazier­weg von der Auto­straße, die — mari­ti­mer als es die Wirk­lich­keit recht­fer­tigt — Halle­sches Ufer heißt.

Mein erstes Ziel ist das Lapi­da­rium. Es liegt dem grün umzäun­ten Mendels­sohn-Park gegen­über. Als ich nach Berlin kam vom Meer, war da statt des Parks ein Hafen, der heute nur noch in der Lite­ra­tur exis­tiert: in Theo­dor Fonta­nes Cécile zum Beispiel; der kalt­blü­tige Oberst von St. Arnaud lebte dort mit seiner schö­nen Frau, dem frühe­ren Fürs­ten­lieb­chen, das die Duodez-Welfen vom Onkel auf den Neffen vererbt hatten; das führte erst in die Luxus­villa am Hafen­platz, dann in den Tod. Ich versu­che mir vorzu­stel­len, wie der Hafen ausge­se­hen hat, den ich noch selbst gese­hen habe; er gehört zu meinen frühen Berli­ner Eindrü­cken. Nichts mehr weiß ich davon.
Die Melan­cho­lie der Verges­sen­heit kommt auf. Ich gehe durchs offen­ste­hende Tor ins Lapi­da­rium; Haus der Steine; Eintritt drei Mark; zwei Kusto­din­nen, ein Wäch­ter und ich. Die Steine sind Menschen­bil­der aus Stein, drau­ßen auch mytho­lo­gi­sche Tiere, mit einem halben Reichs­ad­ler fängt es an. Mehr­heit­lich sind die Steine aus der soge­nann­ten Sieges­al­lee, die die Geschichte aus dem Tier­gar­ten gestri­chen hat. Der schönste der Steine ist als Kaise­rin Auguste Vikto­ria benannt, der breit­krem­pige, stei­nerne Blumen­hut ist noch ganz gut erhal­ten, aber das Gesicht ist von der Zeit wegge­fres­sen; die Frau war auch zu Lebzei­ten ziem­lich gesichts­los.

Eigent­lich ist das Stein­haus ein Haus für die Wasser­klo­setts: Das Pump­werk 111 war ein Sieg. 1873 bis 76 gebaut vom großen James Ludolf Hobrecht verhäus­licht es den Sieg der Pump­ka­na­li­sa­tion über das Abfuhr­sys­tem. Das waren im stin­ken­den Berlin des 19. Jahr­hun­derts zwei Denk­schu­len, zwei “Philo­so­phien” würde man heute sagen. Ich versu­che die Gefühle nach­zu­emp­fin­den, mit denen James Hobrecht, der große Entstin­ker Berlins, dieses Pump­werk gebaut hat, nach­dem er endlich seine Vorstel­lun­gen über groß­städ­ti­sche Entwäs­se­rung durch­ge­setzt hatte. Das war in den 1870er Jahren. Deutsch­land meinte, Europa besiegt zu haben.

In der Sieges­al­lee stand der jetzt im Lapi­da­rium nasen­los der Lächer­lich­keit preis­ge­ge­bene Wilhelm I. so stei­nern da, dass die Leute im Sinne Hegels denken soll­ten: Es ist erreicht. Deutsch­land ist die Welt! Nichts da! Deutsch­land ist kein Ziel.
“Es gibt kein höhe­res Ziel als die Schaf­fung dauer­haf­ten Frie­dens und die Wahrung echter Frei­heit für den Einzel­nen.”
Die erha­be­nen Buch­sta­ben aus dem erha­be­nen Text zu brechen, das ist schnell ein Ziel der Souve­nier­jä­ger gewor­den. “Peace” und “free­dom” sind schon weg. Vom Lapi­da­rium auf die Marshall-Brücke sind es nur wenige Minu­ten. Das ist die jüngste Brücke Berlins. Ganz in der Nähe gab es früher eine Brücke, die nach der gesichts­lo­sen Köni­gin-Kaise­rin hieß.

Noch ist die Marshall-Brücke haupt­säch­lich Park­platz; ein ruhi­ger Ort über dem Wasser inmit­ten eines unru­hi­gen Quar­tiers dicker Erneue­rung; vom Gewe­se­nen sieht man hinten noch das Stüler-Kirch­lein mit grünem Turm, auf der ande­ren Seite Hobrechts elegan­ten, acht­ecki­gen Pump­werks­schlot vor dem Stahl­glas der Post­bank, südlich Hyatt unter dem roten Bogen, Volks­bank, debis; der Wind spielt in den Sonnen­ja­lou­sien des sahara-sand-brau­nen Hoch­hau­ses wie in glat­tem Wasser, hinter dem Grün nörd­lich liegt die Straße Am Karls­bad; in Nummer 13 hatte Hobrecht sein Büro, in der Villa des Staats­bild­hau­ers Begas, von dem nun Steine hinten stehen im still­ste­hen­den Abwäs­ser­pump­werk.
Am Karls­bad zeich­nete Hobrecht den berühm­ten Bebau­ungs­plan von 1862, der ihm so viele Vorwürfe einge­tra­gen hat und deswe­gen auch so großen Ruhm. Vorwürfe wie Ruhm sind über­trie­ben. In seinem klas­si­schen Buch über das Berli­ner Miets­haus hat mein Halb­jahr­hun­dert­freund Johann Geist das (zusam­men mit seinem tüch­ti­gen Kolle­gen Klaus Kürvers) darge­legt. Die Sagen werden trotz­dem noch ein biss­chen weiter­erzählt in gewis­sen Krei­sen. Lange dauert es nicht mehr, dann weiß man von Hobrecht gar nichts mehr, weder den Ruhm, noch die Vorwürfe, noch, dass beides falsch war.
Die Stra­ßen, die hier am Land­wehr­ka­nal entlang­füh­ren, hat Hobrecht schon von Lenné über­nom­men, dem Garten­bau­meis­ter, der Preu­ßen eine grüne Leich­tig­keit verlieh, der dieser Staat nicht gewach­sen war.

Der Bebau­ungs­plan Hobrechts führte natür­lich über die Spree hinüber, wo am Ober­baum die Pracht­brü­cke noch fehlte, aber aus dem Karls­bad Nummer 13 schon bedacht wurde. Auf Hobrechts Plan hebt sich der Boule­vard jenseits der Spree über die Plätze N und M auf den Barnim hinauf, um die Stadt, die damals dort noch gar nicht da war, zu umrun­den. Jetzt stehe ich deshalb — mit Hoch­bahn U1 und Tram 20 gekom­men, nach Fußweg von der Marshall- zur Möckern­brü­cke auf diesem Platz N. Es ist ein Stra­ßen­stern, sechs Stra­ßen gehen von ihm ab, führen auf ihn zu. Bersa­rin platz. Bersa­rin hätte auch Marschall sein können. Vorerst war er Gene­ral­oberst der — wie’s am Bezirks­amt ange­schrie­ben steht — ruhm­rei­chen Sowjet­ar­mee. An die Marshall-Brücke hätte man über George Marshall, den namens­ge­ben­den Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger, auch schrei­ben können: “Gene­ral­stabs­chef der ruhm­rei­chen U.S. Army”. Diese Adjek­tiv­zu­wei­sung ist aber nicht üblich. “Ruhm­reich” ist östlich.
Stalin hat getobt, sagt Manfred Jagusch, der Foto­graf. Das Motor­rad, mit dem Bersa­rin umge­kom­men ist, war keine Harley-David­son, wie die Sage geht, sondern eine “gute alte deut­sche Zünd­app”. Am Peters­bur­ger Platz, Platz N des Hobrecht­plans, sitze ich drau­ßen vor dem Peters­bur­ger Café. Der Radio­mo­de­ra­tor speku­liert über Clin­ton, der heute aussagt, ob er mit Monica Lewin­sky … na, was denn? Die alten Frauen am Nach­bar­tisch hören das: “Sollte Clin­ton …”
“Die Arbeits­lo­sig­keit, dass die wegkommt, is wohl wich­ti­ger, als ob sie den am Schwanz gelutscht hat.”
“Es sei denn, er hat gelo­gen.”
“Ach, was. Wenn die Arbeits­lo­sig­keit wegkommt, dann meinet­we­gen ooch mit Lüge.”
Clin­ton ist auch unser Präsi­dent, er ist auch am Peters­bur­ger Platz zustän­dig; die Welt ist eine Welt. Vor dem Peters­bur­ger Café steht eine kleine Palme. Noch 500 Tage bis zum nächs­ten Jahr­tau­send, sagt der Radio­mann.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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