Grüne Stadt, an einem Dienstag

“Ich sach doch, midden Bus hädden mir fahren missen; midder Essbahn siehsde nüscht.” Als das die säch­si­sche Frau am Pots­da­mer Platz zu den Ihren sagt, hat sie höchs­tens vier Statio­nen lang recht. Und noch nicht einmal das. Denn auch solange die S‑Bahn noch unten fährt, unter der Mitte von Berlin hindurch, bis sie unweit vom Grab Theo­dor Fonta­nes ans Licht kommt, sieht man viel­leicht aus den Fens­tern nichts, aber würde doch manches empfin­den, wenn man Bescheid wüsste über die Geschichte der Nord-Süd-Verbin­dung durch Berlin; sogar Adolf Hitler käme in dieser Geschichte vor … mit einem soge­nann­ten Macht­wort, das er schon 1933 gespro­chen haben soll. Und sobald die Bahn aus dem Unter­grund hervor ist … dann sowieso, denn nun fährt sie eine ganze Zeit lang eine Stre­cke, die über fünf Jahr­zehnte ganz dicht an einer Welten­grenze entlang führte.

Ich komme aus der Hoch­schule. In meinem Verfas­sungs­rechts­se­mi­nar war die Frage: Versto­ßen die Bundes­wehr-Torna­dos, die von italie­ni­schem Boden aufstei­gen und jugo­sla­wi­schen Boden bombar­die­ren und nicht nur den Boden, viel­leicht gegen das eben 50-jährige Grund­ge­setz? Gar gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag: “…das verei­nigte Deutsch­land (wird) keine seiner Waffen jemals einset­zen, es sei denn in Über­ein­stim­mung mit seiner Verfas­sung und der Charta der Verein­ten Natio­nen” und: “…von deut­schem Boden (wird) nur Frie­den ausge­hen”? Die drei großen euro­päi­schen Zusam­men­brü­che dieses Jahr­hun­derts — habe ich den Studen­ten eben aus einem Text des großen Englän­ders Eric Hobs­bawm, der auch mal ein Berli­ner war, vorge­le­sen — : “die beiden Welt­kriege und die größte dieser Kata­stro­phen, nämlich der Zusam­men­bruch der west­li­chen kommu­nis­ti­schen Systeme”…: Ist es also gar kein so freu­di­ges Ereig­nis — wie wir bisher dach­ten -, das von der Welten­grenze hier nur noch die Bezirks­grenze übrig ließ, an der ich gerade — grün, grün, grün — entlang fahre und “schön” denke: “schön”?
Schön — ist auch das erste Adverb, das mir zu Froh­nau einfällt; es muss sogar ein Super­la­tiv sein: “Ah!” würde ich schon nach den ersten Schrit­ten aus der ordent­li­chen Bahn­hofs­halle sagen, wenn ich nicht fürch­ten müsste, dass alle die ordent­li­chen Leute hier das unor­dent­lich fänden. Eine Garten­stadt, steht in den Büchern, dürfe man Froh­nau nicht nennen, weil es nichts Genos­sen­schaft­li­ches hat (oder so). Dann also im Plural: eine Gärten­stadt, eine Stadt aus Park­an­la­gen, eine Schmuck­stadt, eine Grün­stadt. Wenn man auf die Karte sieht, sehen die Stra­ßen links und rechts vom S‑Bahnhof aus, wie die Adern unter den Brüs­ten einer … nein, halt … doch jetzt nicht etwa schöne Frauen zitie­ren.

Der Inves­tor zu Anfang des [vori­gen] Jahr­hun­derts war ein Finanz­mann, den der Kaiser wegen seines vielen Geldes zum Fürs­ten erhob: Guido Graf Henckel, Fürst von Donners­marck, hieß er. Bekannt seiner­zeit auch dadurch, dass er ein Vermö­gen ausge­ge­ben hat, um eine schöne Russin zur Frau zu krie­gen, die wunder­bar nackt gemalt ist in dem Palais auf den Champs-Elysee, in dem Henckel mit ihr wohnte. Aber da war von Froh­nau noch längst nicht die Rede. 1909, als die Archi­tek­ten Josef Brix und Felix Genz­mer, die später — siehe oben — auch einen Plan für die Nord-Süd-Eisen­bahn durch Berlin entwar­fen — den Entwurf für Froh­nau fertig hatten, war der Milli­ar­där schon über 70. Nach dem städ­te­bau­li­chen Plan war das nächste Stück von Froh­nau der Bahn­hof mit dem Turm, in halber Höhe steckt ein Hirsch Kopf und Geweih aus den Mauern. Die gegen­über­lie­gende Apotheke heißt aber — Ironie ? — nach Elchen. Der wunder­schöne Platz — ist das viel­leicht der schönste Platz Berlins (und gar nicht der Gendar­men­markt, der also bloß der schönste Platz der Welt wäre)? — heißt seit 1937 — aha! — nach den Ludol­fin­gern, die gewal­tige deut­sche Könige und römi­sche Kaiser hervor­brach­ten, auch solche, die auf dem Lech­feld … nein, nein, nicht schon wieder Geschich­ten von da unten!
Die Gegen­wart des Plat­zes handelt nicht von Herr­schern, Siegen und Nieder­la­gen, sondern von Kasta­nien, die so präch­tig in weißer und roter Blüte stehen, dass jeder sieht: die Natur siegt nicht, die verschwen­de­ri­schen Kasta­nien sind keine Sieger, sie sind — da möchte man beinahe das entwer­tete “einfach” einfü­gen — schön. Mir gehen sie direkt ans Herz. Ich halte inne, verweile auf der Terrasse, dem öffent­li­chen Balkon, der über dem tiefer liegen­den Wiesen­teil des Ludol­fin­ger Plat­zes so steht, dass man gera­dezu in den Sigis­mund­korso blicken kann. Diese Straße — obwohl sie alle Funk­tio­nen einer Straße erfüllt — tut doch nur so, als ob sie eine Straße sei, ist viel­mehr ein lang­ge­streck­ter, am Ende sich sanft den Blicken entschwin­gen­der Garten­park. Nichts hat er mit dem Kaiser des 14./15. Jahr­hun­derts zu tun, nach dem er wohl deshalb benannt ist, weil dieser Herr­scher aus Nürn­berg einen ande­ren Nürn­ber­ger zum Kurfürs­ten in der Mark machte: den ersten der Hohen­zol­lern, die dann auch Könige und Kaiser werden woll­ten und Welt­ge­schichte mach­ten — hätten sie’s doch blei­ben lassen mit ihren Bis- und Donners­marcks.
Im Rücken habe ich auf dem Balkon, viel­mehr gerade vor mir, nach­dem ich mich auf einer der Bänke unter der Muster­kas­ta­nie gesetzt habe, den Zelt­in­ger Platz mit der Johan­nes­kir­che.
Die Johan­nes­kir­che wäre viel schö­ner, wenn sie auch von Felix Genz­mer, dem Froh­nauer Haupt-Archi­tek­ten, wäre. Der hatte am Ende der Weima­rer Repu­blik den Wett­be­werb, den die Gemeinde ausge­schrie­ben hatte, mit einem moder­nen Entwurf auch gewon­nen. Aber als tatsäch­lich gebaut wurde, hatte der Nazis­mus schon begon­nen, auch in Froh­nau, da nahm die Gemeinde lieber die Brüder Krüger, die das mons­tröse, deutsch-natio­nale Tannen­berg-Denk­mal gebaut hatten. Als ich dann drüben vor der Kirche stehe, finde ich aller­dings trotz des boden­stän­di­gen Schnitz­wer­kes am schwarz­höl­zer­nen Portale, dass man heute nichts mehr davon hat, wenn man stil­ge­schicht­lich die nazis­ti­schen Elemente an der Johan­nes­kir­che der Krüger-Brüder heraus­sucht. Das Jahr, das als ihr Geburts­jahr groß an der Kirchen­front steht, ist auch mein Geburts­jahr. Ich habe eine Vorstel­lung von der Geschichte, die die Jahr­gangs­ge­nos­sin hinter sich hat.

“Freut Euch, dass Eure Namen am Himmel geschrie­ben sind”, steht mit Lukas Kapi­tel 10, Vers 20, in dem Schau­kas­ten, in den die Konfir­man­den von 1999 ihre Namen geschrie­ben haben. Freut euch nicht, dich­tete Luther, dass euch die Geis­ter unter­tan sind, freut euch aber … siehe oben. Zunächst aller­dings, würde ich den Konfir­man­den sagen, stehen eure Namen auf der Erde (wenn auch an einem sehr schö­nen Platz), damit sie an den Himmel kommen, dafür muss man … ein Vorschlag ist: nein sagen, wenn zu viele ja sagen, halt sagen, wenn zu wenige andere es tun, vorwärts sagen, wenn zu viele stehen blei­ben.
“Manch­mal muss man klar sagen, was man will”, sagt die SPD gegen­über auf einem großen Plakat. Mit diesem “manch­mal”, glaube ich, kommt der Name der SPD nicht an den Himmel.

An der Brücke zwischen den beiden Plät­zen ist ein Café “mit Sommer- und Winter­gar­ten”. Während ich nun dort sitze und anfange, diesen Text zu schrei­ben, stelle ich mir schon vor, wie schnell sich mir das Stadt­ge­fühl verwan­deln wird, bis ich — es dauert nur 35 Minu­ten — am Anhal­ter Bahn­hof und 5 Minu­ten später in meinem Büro ange­kom­men bin, wo ich jetzt voller Begeis­te­rung über das Gefühls­tempo Berlins diesen Text zu Ende schreibe.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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